Als ich ein Junge war. Da war ich zehn. Da wünschte ich mir den Vornamen „Jura“. Das war irgendwie russisch, klang aber in deutschen Ohren wie ein männlicher oder auch weiblicher Vorname. Ich wollt nicht, dass jemand weiß, was ich bin. Ich wollt ein Junge sein. Besser, ich hätte Jura studiert, aber nein, ich wollte nur so heißen. Russische Jungen, hörte ich, werden ab und an so genannt. Das „a“ klang dennoch weiblich. Ach, ich weiß nicht, was da so in meinem Kopf vorging. Auf jeden Fall lehnte ich die Geschlechtertrennung ab, schor mir die Haare auf beinahe Glatzenniveau und trug Lederhosen. Kurze selbstverständlich. Es war der Sommer, in dem ich elf Jahre alt wurde. Ich wollte ein Junge sein. Ich war sportlich und ich wurde im Schwimmbad aus der Mädchentoilette geworfen, was ich mit teuflischer Lust registrierte. Ich war dennoch in Peter aus meiner Klasse – einer Spezial-Sport-Klasse – verliebt. Und später in Uwe im Kinderferienlager. Der mich zwar enorm kumpelhaft fand, aber die erhofften weiblichen Lockmittel offensichtlich bei mir nicht entdecken konnte. Da war ich halt die, mit der man Pferdestehlen konnte. Mehr nicht. Ich weiblicher Knabe war nicht so sexy wie der-die in der Shakespeare-Komödie „Was ihr wollt“. – Der Umzug in eine andere Stadt bewahrte mich vor weiteren Feinabstimmungen an meiner sozialen Skulptur „Das Mädchen, das ein Junge sein will“. Ich kam in eine neue Klasse, ich war zwölf, es regte sich etwas Unbekanntes in mir. Die Lederhose wurde zu klein und ich ließ mir die Haare wieder wachsen. Ich hatte meinen ersten Freund: Norbert. Das war so aufregend, dass ich den ersten pubertären Ausbruch mit wütenden Tiraden gegen meine Mutter antrat: Ich lass mir das von Dir nicht nehmen! Ich habe jetzt einen Freund! Basta! – Sie sagte wider Erwarten: Was willst Du denn? Ich hab doch gar nichts dagegen! – Komisch. Probleme hatte ich ausnahmsweise mal nicht mit der Mutter, sondern mit Norbert. Ich konnte ihn nicht küssen. Denn ich wollte es richtig machen. Doch wo konnte ich erkunden, wie richtiges Küssen geht? Nirgends. Ich durchwühlte das elterliche Arbeitszimmer und fand am Grunde des Bücherschrankes in einem Versteck ein „Aufklärungsbuch“, das ich aufgeregt und heimlich durchlas. Und ich fand „Die schönsten Abenteuer des Giacomo Casanova“, dessen Name mir bis zu diesem Tag unbekannt war. Ich las auch dieses Buch in meinen Solo-Nachmittagsstunden, wenn die Eltern auf der Arbeit waren. Allerdings war es nicht ganz so hilfreich, wie das „Aufklärungsbuch“, das den Sexualakt nüchtern schilderte, als wäre das etwas notwendigerweise – leider, leider – zu Absolvierendes. Ok, ich war nun informiert. Ich war auch irritiert, weil ich erstmalig feststellte, dass meine Eltern etwas vor mir versteckt hielten. Und weil auch ich erstmalig ein Geheimnis hatte. Ich legte die versteckten Bücher wieder zurück. An den alten Platz. Und irgendwann haben wir es dann „geschafft“. Norbert und ich. Natürlich nur das mit dem „Küssen“. Ich kann mich weder erinnern, ob es am Ende richtig war oder gar gut. Es war. Sonst nichts. Ich war kein Junge mehr. Ich war ein Mädchen. Hatte mittellange Haare und sah schon so gut aus, dass die Jungs unten vor der Tür ständig klingelten. Norbert war der erste, aber nicht der letzte.