Heute ist wieder Totensonntag. Und ich denke an unseren Freund, Ehemann, Geliebten, Vater, Chaoten, Ordnungsfanatiker, Trinker, SingerSongWriter, Gitarristen, Flötisten, DDR-Rockstar, alternden, immer wieder – nicht mit seiner Zustimmung – als Blues-Barden bezeichneten, Peter Cäsar Gläser. Wir waren 25 Jahre verheiratet. Ich kann es mir manchmal schon gar nicht mehr vorstellen. Es ist eine versunkene Zeit. Es ist eine alternde Zeit, eine beinahe tote Zeit. Obwohl ich und andere, die dabei waren, heute gern davon schwärmen möchten. Und wir tun das auch. Es war unsere Jugend. Wir haben geheiratet, wir haben zusammen gewohnt, wir haben ein Nest gebaut, wir hatten Kinder, Verwandte und sehr, sehr viele Freunde. Wir hatten ein offenes Haus. Wir versuchten, über die Grenzen der DDR – zumindest kulturell und spirituell – zu springen. In Gedanken, mit viel Alkohol, viel Spinnerei, Naivität, Weisheit und Kreation. Und ungeheuer viel Zigarettenrauch. Wir hatten Malerfreunde, Musikerfreunde und –feinde, Stasispitzel, die wir für Freunde hielten, und Freunde, die wir für Stasispitzel hielten, die es aber nicht waren, in unserer Wohnung permanent zu Gast. Wir tranken Unmengen schlechten Alkohol, wir rauchten, dass die Schwaden die Wohnung Sepia einfärbten, wir feierten und brieten Steaks für Ankömmlinge in unserer Küche, deren Namen wir nicht kannten und auch nicht behielten. Falls wir sie überhaupt erfuhren. Wir hingen die Weihnachtsbäume an der Decke auf, erzogen unsere Kinder mehr schlecht als recht, vielleicht antiautoritär, wovon sie sich noch heute versuchen zu erholen, wir liebten und hassten, betrogen und belogen. Wir liebten. Irgendwie. Wir schmachteten denen im Westen per Westfernsehen hinterher, die wir für so ungeheuer frei hielten. Aber, was wir nicht wussten: Es ging uns gut. Wir hatten eine riesengroße – für heutige Verhältnisse – billige Wohnung. Wir hungerten nicht, im Gegenteil, wir machten gemeinsam die Bockwurst-Diät, bei der Peter abnahm und ich natürlich nicht. Wir diskutierten jeden Abend die politische Lage, ohne Angst zu haben, dass uns etwas passieren könnte. Obwohl wir wussten, dass der „Feind mithört“. Es war uns egal. Ich las jeden Morgen drei Zeitungen, in denen dasselbe stand und versuchte, zwischen den Zeilen zu lesen. Wir fanden alles Scheiße im Lande. Dieses System. Diese DDR. Wir wollten weg. Und das taten wir dann auch. – Wir verließen eine wundervolle Wohnung, die wir selbst ausgebaut hatten, mit allem Geld, das wir in diesen Jahren verdient hatten. Nach uns zog – wie wir hörten – ein Stasi-Offizier – dort ein. Der wohnt aber auch nicht mehr dort. Niemand wohnt mehr dort. Niemand, den wir kennen. Das Haus sieht heute von außen wunderbar restauriert aus. Wir sind in den Westen gegangen, um uns dort zu trennen. Nicht gleich. Aber nach zehn Jahren. Hier auf diesem Foto – Peter Cäsar Gläser – von mir mit Rasier- oder Frisiercreme gestylt – auf dem Schaukelpferd, auf das ich einmal nachts im Dunkeln fiel und mir zwei Zehen und zwei Rippen brach. Wir waren gut drauf. Wir waren glücklich, ohne es zu wissen. So ist das Leben. Der Totensonntag mahne all jene, die nicht wissen, dass es so sein kann. Er mahnt, der Toten zu gedenken und – dem Leben zu huldigen. Es kommt nie mehr wieder.