Ich habe noch Pockennarben. Weiß eigentlich jeder, der das liest, was das ist? Pocken gibt’s ja schon lange nicht mehr und als ich mich der schmerzhaften Prozedur einer Pockenimpfung unterziehen musste, bekam diese Krankheit keiner mehr, den ich kannte. Heute sind sie ausgemerzt, heißt es. Diese Pocken. Ich habe zwei dicke fette weißliche Narben am Oberarm. Kann mich aber erinnern, dass vorzugsweise Fleischfachverkäuferinnen in der DDR, die immer in weißen Kitteln mit freien Oberarmen bedienten, die immer sehr dick waren, in der Regel vier dieser Narben aufwiesen. Sie sind in meiner Erinnerung mit der Fleischfachverkäuferin zu einem Emotionsknäuel verwachsen. Diese vier Pockennarben am Arm der… – nun ich sag es nicht noch einmal – diese sehr begehrten Damen verkauften uns DDR-Kindern, die für ihre Eltern anstanden, und auch vielen Frauen, sogar Männern, die ebenfalls die Schlange bevölkerten, die zum Sozialismus gehörte, wie der Topf auf den Deckel, die heiß begehrte Fleischware. Heiß begehrt waren Rouladen, Kochschinken, roher Schinken, und ungewöhnlichere Fleischsorten, neben dem normalen Schweinefleisch, das gab es immer oder meist.
Was ich damit sagen will: Ich bin alt.
Wer hat heute noch Pockennarben? Heute hat man eine BioNTech-Impfung oder eine von Moderna, AstraZeneca oder Johnson & Johnson. Ich werde keine von denen in mich hineinlassen. Obwohl ich keine Impfgegnerin bin. Aber nicht noch einmal lasse ich es zu, dass man mir zwangsweise etwas in den Körper spritzt, von dem ich nicht weiß, was es bewirkt. Letztes Jahr redete mir meine Hausärztin mal wieder eine Tetanus-Impfung ein. Ich habe „Ja“ gesagt. Die ist bewährt. Da weiß ich, was ich habe oder bekomme oder eben nicht bekomme.
Aber das ist heute nicht mein Thema. Mein Thema ist: Ich bin schon alt.
Ich habe Pockennarben. Und früher hatte ich abstehende Ohren. Und immer habe ich die Eltern genervt, dass ich eine OP will. „ich will anliegende Ohren haben!“. Ich kann mich erinnern, dass ich mit vierzehn Jahren im Kino saß. Und weil die Friseuse – so hießen die damals und nicht Friseurin – mir die Haare zu kurz geschnitten hatte, konnte ich den Film nicht richtig verfolgen, da ich in erster Linie daran dachte, dass die Jungs hinter mir sehen könnten, was ich für abstehende Ohren habe. – Wie durch ein Wunder habe ich – ohne Operation – heutzutage so anliegende Ohren, dass man bei Frontalfotos denkt: Die hat überhaupt keine Ohren! – Auch irgendwie komisch. Wie sich die abstehenden Ohren meiner Kinder- und Jugendzeit „über Nacht“ in den gewünschten Zustand legten. Ich kann es nicht erklären, es ist sozusagen ein Gotteswerk. Meine Gebete wurden erhört.
Aber wir waren beim Alter. Woran merke ich, alt zu sein?
Ich bin nicht mehr eifersüchtig. Und ich weiß, dass es sich nicht lohnt, eifersüchtig zu sein. Kann mich aber gut erinnern, dass ich früher vor Eifersucht fast innerlich verbrannte. Dass ich zur Mörderin hätte werden können, wenn ich nicht doch eine gewisse moralische Erziehung genossen hätte. Als mein Mann Peter zum ersten Mal eine seiner Geliebten nach Hause brachte und in unserem Bett übernachten ließ, konnte ich mich nicht entscheiden, wem ich das Messer in die Brust stoßen sollte. Ihm oder Ihr. Also ließ ich es und bekam lieber Magen- oder wahlweise Unterleibsschmerzen. Die Unterleibsschmerzen haben sich erledigt, wie die Mordgelüste. Sie sind Knie-, Rücken-, Herz-, und Hallux-Schmerzen gewichen. Ich überlege, was ich lieber hätte. Heute entschiede ich mich für die Eifersucht, weil ich damit umgehen könnte. Aber ich kann nicht alles haben. Weisheit gegen Jugend funktioniert leider nicht.
Wann ich alt geworden bin? Als ich die ersten goldenen Ohrringe gekauft habe. Heute trage ich nur noch Gold oder tu zumindest so. Silber kommt mir nicht mehr in die Tüte. Ist arm, aber sexy, aber jung. Bin ich alles nicht mehr.
Alt ist auch gut. Es gibt keine Erwartungen. Es gibt nur noch Genuss. Essen ist der Sex des Alters – stimmt. Trinken auch. Leider gefährlich. Ich hatte eine Alkoholiker-Mutter. Also kämpfe ich mit Whiskey und Sekt. Jeden Tag aufs Neue. Und manchmal klappt das sogar.
Alt ist auch gut – es gibt zum Beispiel die Freude, am Morgen wieder heil zu erwachen und einigermaßen die ersten Schritte in den Tag zu bewältigen, die schmerzhaft sind, aber es lässt nach – im Laufe des Tages. Es gibt die Freude, so schlau zu sein und die noch größere Freude, dass die anderen es nicht merken. Ich kann mich sehr gut dumm stellen. Eine meiner Lieblingsübungen. Und die Jüngeren, einschließlich meiner allesamt sehr klugen Kinder und Kindeskinder denken – wie ich auch früher – sie seien doch viel viel viel klüger. Kenn ich. Hab‘ ich auch gedacht.
Alt hat noch viele gute Seiten. Weil ich nicht mehr auf Friedhöfe gehe. Sie sind mir zu nah.
Insgesamt ist alt sein natürlich ziemlich grauenhaft. Ich setze das fort, wenn ich noch ein wenig darüber nachgedacht habe.