19. Apr 2015

Mode, Diäten und so – Teil 2

Zieh doch mal den Bauch ein. Sagte mein Vater. Da war ich 13. Mach doch mal eine Diät. Sagte meine Mutter. Da war ich vierzehn. Damals tauschte sie sich per Brief immer mit ihrer Schwester aus – über die neuesten Abnehmstrategien. Die wohnte in Berlin und wusste Bescheid – über Wodka- und Bockwurstdiät, über Punkte-Diät und Kohlsuppenwochen. Ja, das gab es alles schon in der DDR. Man glaubt es kaum. Denken doch heute manche, dass wir eventuell nicht genug zu essen hatten. Stimmt nicht, wir hatten genug. Nur keine so große Auswahl.

Spätestens seit den sechziger Jahren begannen auch die DDR-Frauen, zunehmend dick zu werden. Die Lebensmittelmarken der Nachkriegszeit waren abgeschafft und man und frau aßen nach Herzenslust. Auch meine Mutter hatte in dieser Zeit wahrscheinlich ihr höchstes Gewicht. Dann aber ging es abwärts. Ich habe selten eine Frau kennengelernt, die so besessen vom Dünn-Sein war, wie meine Mutter. Tja, das färbt ab. Oder erzeugt das Gegenteil. Zwischen diesen Polen bewege ich mich. Immer noch.

Fett macht dick. Kuchen und Schokolade machen dick. Brot macht dick. Wasser macht dick. Butter macht dick. Kartoffelsalat macht dick. Dieses Leben macht einfach dick. So in etwa lauteten die Glaubenssätze neben moralischen Fingerzeigen, die mir die Mama einimpfte. Manche behaupten ihre Stellung noch heute in meinem Kopf. Oder wo sie auch hausen. Unvergessen ist die Zeremonie, mit der meine Mutter jedes Stück des von ihr heißgeliebten Kuchens aß. „Ach nein, Kuchen macht dick! Ich esse heute keinen.“ Zehn Minuten später: „Na gut, die Hälfte!“ Sie schnitt das Kuchenstück in der Mitte durch. Nach einer weiteren Viertelstunde: „Ach, ich nehme noch eine Hälfte!“ Sie schnitt die Hälfte in zwei Hälften. Und nahm eine davon. Dazwischen immer Laberlaberlaber. „Ach was soll’s, ich schneid‘ das nochmal durch!“ – Sie schnitt das verbliebene Bisschen noch einmal durch. Tja, am Ende dann schob sie auch den letzten Rest in ihren Mund. Und weg war er, der Kuchen. Unter Schmerzen gegessen. Die Strafe dafür war hart. 200 Gramm.

Sie stand unentwegt auf der Waage. Täglich mehrmals. „Warum müsst Ihr so dick sein!“ sagte sie vor ein paar Jahren zu mir. Und meinte mich und meine Schwester. „Vielleicht hättest Du Dir einen anderen Vater für Deine Kinder aussuchen sollen.“ Ich weiß nicht mehr, was sie antwortete, auf jeden Fall war sie beleidigt. Als sie nach dem Tod meines Vaters einen neuen Mann kennenlernte, ging die Abnehmorgie richtig los. Unvorsichtigerweise hatte der Neue ihr gestanden, dass er schmalhüftige Frauen liebe. Diese kommen aber in unserer Familie nicht vor. Doch meine Mutter, die alles, was sie einmal begann, obsessiv zu Ende führte, nahm den Kampf auf. Schmalhüftigkeit – das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schaffen!

Und sie schaffte es und errang kurz vor Ende ihres Lebens die heißersehnte Größe 36. „Ich hab die 36“. – Das sagte sie passend oder unpassend wie ein Mantra in jegliches Gespräch hinein, egal, worum es ging. Bauch weg. Hüften weg. Busen weg. Und dann mit knapp 80 bei H&M einkaufen gehen. Ich kann mich erinnern, als ich sie zu dieser Zeit besuchte, dass sie ein braunes elastisches Schlauchkleid trug, in dem sie tatsächlich wie ein umwickelter Besenstiehl aussah. „Na! Bin ich nicht schlank!“ – rief sie jedes Mal und drehte sich glücklich im Kreis. “ Ja, Mama, Du bist wirklich superschlank.“ Das größte Kompliment, das man ihr machen konnte. Das zweitgrößte: „Du siehst zwanzig Jahre jünger aus!“ Am besten beide auf einmal. Das machte sie seliger, als alles andere auf der Welt.

Als sie dann vergaß, wer ich bin, und am Ende gar, wer sie selber war, als sie vergaß, was 36 ist und dass jemand in ihrem Leben mal Schmalhüftige bevorzugte, als sie all das vergaß, hat sie für den Rest ihres Lebens nochmal so richtig „reingehauen“. Und schaffte es tatsächlich wieder hoch – zur Kleidergröße 44. Erst in dieser Zeit begriff ich, wie sehr sie Schokolade geliebt hat. Ja, sie war eine ganz Süße. Ich überschüttete sie bei allen Besuchen mit Pralinenschachteln. Und sie riss sie auf, als gilt es das Leben. Essen ist der Sex des Alters. Ist was dran!

Foto: Meine Mutter in der Blüte ihres Lebens. Ca. 38 Jahre alt.


Lesen Sie auch