Meine Oma. Sie war die gute Oma. Die Oma Jaeger. Ich hatte auch die böse Oma. Oma Pfeifer. Die gute Oma war die Mutter meiner Mutter. In den ersten Lebensjahren meine tägliche Begleiterin. Von ihr lernte ich das Sprechen. Von ihr lernte ich, was im Leben wichtig ist. Noch heute fällt mir bei fast jedem Ereignis ein Spruch meiner Oma ein. Noch heute träume ich von ihr.
Oma Jaeger war aus Böhmen. Aus dem Wald. Ihr Vater war Analphabet und Köhler. Ihre Mutter bekam Kinder. Es waren 17. Denn in Böhmen war man katholisch. Verhütung gab es nicht. Meine Oma sowie ihre ältere Schwester Emilie und ein Bruder wurden erwachsen. Die anderen 14 Kinder starben. In verschiedenen Lebensaltern. Der älteste der gestorbenen Geschwister wurde 12. Die Mutter war immer schwanger und starb mit Mitte vierzig. Meine Oma musste – ehe sie morgens zur Schule ging – zeitig aufstehen und klöppeln. Das Geld, das der Vater verdiente, reichte nicht. Sie wollte Lehrerin werden. Doch das ging nicht. Obwohl sie in der Dorfschule nur Einsen hatte und die Lehrerin sie bei ihrem Vorhaben unterstützte. Der Vater entschied, dass sie mit vierzehn die Schule beenden und arbeiten müsse.
Sie lernte den Beruf einer Schneiderin und brachte es bis in die Stadt Wien, wo sie sehr lange Hausangestellte bei „Herrn Hahn“ war. Herr Hahn – eine feste Größe in ihrem und in meinem Kinderkopf. Herr Hahn sagte nur wichtige Dinge und war entweder der Guru oder der Geliebte meiner Oma. Das lässt sich heute nicht mehr feststellen. Herr Hahn lehrte sie offenbar alles, was ein Mädel aus dem Hinterwald von ihren Eltern nicht beigebracht bekommen hatte: Etikette, Beredsamkeit, Ehre, Moral für den Großstadtgebrauch. Und natürlich alles, was ein Wiener Haushalt der Mittelschicht so erforderte. Herr Hahn war einiges älter als meine Oma. Und als er starb, erbte sie sein Vermögen. Er hatte keine Verwandten oder bedachte diese nicht. Auch das verliert sich im Dunkel der Geschichte.
Wo meine Oma ihren Hallodri-Ehemann kennenlernte, weiß ich nicht. Er war ein „Geschiedener“ – damals etwas anrüchig. Und hatte – neben der geschiedenen Ehefrau, eine Tochter. Er war kein Österreicher. Und stammte aus dem Harz, aus Osterwieck in Sachsen-Anhalt, dem Bundesland, in dem ich heute wohne. Meine Oma war mittlerweile ein „spätes Mädchen“, ein ziemlich spätes Mädchen. Und er fünf Jahre jünger.
Oma und Opa – damals ein verrücktes Liebespaar – beschlossen, mit Omas Erbe nach Brasilien auszuwandern. Gesagt, getan. Erste Station war Hamburg. Der Hafen Hamburg. Mit dem Postdampfer „Antonio“ wollten sie die Überfahrt ins Ungewisse wagen. Doch man wollte Oma nicht mitfahren lassen. Sie war nicht verheiratet. Und nur verheiratete Frauen durften an Bord. Doch war der Hafen auf die Situation meiner unverheirateten Großeltern in spe eingestellt. Es gab dort ein Standesamt, auf dem die beiden eine Turbo-Eheschließung absolvierten. Trauzeugen waren zwei Kellner aus dem Hafenrestaurant. Dann gings los – in Richtung Rio de Janeiro. Ich habe heute noch Postkarten vom Schiffsinneren und Speisekarten. Sie hatten die 3. Klasse/Kammern und Wohndeck. Dennoch – diese Speisekarten waren nicht schlecht. Da frag ich mich, was es in der 1. Klasse gab.
Ich will es nicht in die Länge ziehen. Sie sind angekommen. Und haben sich ein Leben und ein Geschäft in Rio de Janeiro aufgebaut. Meine Mutter ist dort geboren. Nur eine Anekdote, um das Wesen meiner Oma und das meines Opas zu illustrieren:
Kaum waren sie angekommen, ging mein Opa auf Zimmersuche. Am Abend kam er zurück in die Absteige, in der beide wohnten und rief: Ich habe ein wunderbares Zimmer für uns gemietet – mit Klavierbenutzung. 80 Dollar! – Ob für eine Woche oder pro Monat, vermag ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall – laut meiner Oma – zu viel. Sie fragte: Spielst Du Klavier? Er: Nein. – Sie fragte weiter: Spiele ich Klavier? Er: Nein. – Sie: Dann geh sofort dorthin zurück und mach den Mietvertrag wieder rückgängig. Das tat er dann auch.
Meine Oma war die, die alles zusammenhielt. Die Vernünftige. Er war impulsiv, aber nicht faul und auch nicht vollkommen unvernünftig. Er hatte später eine Buchhandlung. Sie eine Schneiderei.
Und er war eifersüchtig. Traf er sich abends mit Freunden zum „Trinken“, spannte er vor der Wohnungstür Bindfäden, die er beim Heimkommen kontrollierte.
Meine Oma wollte immer eine „feine Frau“ sein, sie hielt sich sehr gerade und trug immer Hut und Handtasche, wenn es wichtig war. Er starb mit 54 an Krebs und sie mit 70 an einer Lungenembolie.
Leider war ich war zu jung, um das zu erfahren, was ich heute fragen würde.
Foto: Meine Großeltern in Rio de Janeiro. Links die beiden sind es.