Das perfekte Mängelwesen. Ich.

Irgendwann sagte eine weise Freundin: Und Deine Eltern sitzen immer mit am Tisch. – Bedrohliches Szenario. Leider stimmt es. Sie sitzen nicht nur mit am Tisch. Sie schleichen sich in meine Träume. Sie sprechen durch mich. Liegen wie ein zäher Mehltau auf meinem Denken. Ab und an kann ich sie verscheuchen. Ab und an verhandle ich. Ab und an triumphieren sie noch. Vom Vater hab ich die Statur, vom Mütterchen keine Frohnatur. Vom Vater hab ich den Hang zum Perfektionismus. Von der Mutter auch. Ist es da ein Wunder, dass ich als permanentes Mängelwesen durch die Welt tappe? Dass ich Fingernägel kaue, dass ich bewegungsunfähig stundenlang herum grübele. Dass ich mich nicht aufraffen kann, wenigstens eine gute Köchin zu sein. Oder Bilder male – für die Nachwelt. Dass ich, wenn ich einen Auftrag bekomme, stets bis zum letzten Moment warte, um dann in harter Nachtarbeit die Frist nicht zu versäumen. Dass ich Fristen versäume. Dass ich Angst vor dem Briefkasten habe. Dass ich mich immer noch frage: Was kannst Du eigentlich wirklich? Warum bist Du nicht Ärztin oder Architektin geworden? Wie es der Vater wollte. Warum kennst Du die Muskeln nicht auf Latein? Und hast alle mathematischen Formeln vergessen. Warum bist Du nicht groß und blond? Und so dünn, wie Mama es wollte. Vom Vater hab ich die Statur. Und das schnelle Denken. Vom Mütterchen das hoffnungslose Basteln an weiblicher Raffinesse und den Optimismus, dass alles machbar ist. Den zähen Glauben an Romantik. Und den Hang, zu tief ins Glas zu schauen. Von beiden die Hoffnung auf eine wunderbare Welt, in der alle Menschen sich in den Armen liegen und glücklich sind. „Du kämpfst nicht!“ – warf mir meine Mutter noch in ihren späten Jahren vor. Das stimmt nicht, liebe Mutter. Ich kämpfe auf meine Art. Ich kämpfe um jeden Tag. Ich verdiene mein Geld selbst. Ich habe drei Kinder großgezogen. Nein, ich hab es nicht perfekt gemacht. Du leider auch nicht. Vielleicht habt Ihr Euch wiedergefunden. Da oben. Ihr naiven Glückssucher der Nachkriegszeit. Im Himmel soll alles leicht sein. Manchmal im Traum höre ich Eure Stimmen, die ich am Tag immer weniger erinnern kann. Manchmal verzeihe ich Euch. Manchmal auch mir. Ich bin schon lang erwachsen.

Foto: Spiegeleien – Ich.

Rocky rockt mein Unbewusstes.

Fahre ich Auto, kann es passieren, dass ich anhalten muss. Panikattacke. Relikt aus den Nuller-Jahren des neuen Jahrtausends. Ich hatte sie nicht nur im Auto, sondern überall. Jetzt nur noch im Auto. Jetzt selten. Jetzt fast gar nicht mehr. Aber heute. Heute fuhr ich meinen üblichen Weg zur Arbeit und hörte im Radio Frank Farians „Rocky“ von 1976. Von dem Farian, der so bekannte und skandalträchtige Gruppen wie Boney M. und Milli Vanilli gegründet hat. Und ab und an auch selbst sang. Zum Beispiel dieses „Rocky“.

Als ich es zum ersten Mal hörte, dachte ich, dass so etwas doch niemand ernst meinen könne. Was für ein Kitsch! Heute weiß ich: Es ist ernst gemeint. Heute bin ich milder. Ich kannte schon einige Leute, die bei „Rocky“ Tränen in den Augen hatten. Es ist so ähnlich wie bei Jonny Hills „Ruf Teddybär Eins-Vier“. Man könnte diese, auf ein paar Lebensweisheiten reduzierten Schlager Augen-Feuchtmacher wider Willen nennen. Vernunft oder Intelligenz haben keine Chance. Da werden irgendwelche archaischen Gefühle heraufgelockt. Umso älter ich werde, umso mehr. – Heute also „Rocky“. „Rocky“ im Autoradio. Ich musste ans Sterben denken. Kommt ja vor – in „Rocky“. Ich dachte wehmütig an all die Dinge, die schon vorbei sind und an das, was noch kommen mag. Wird es, wenn schon Überraschungen, auch ein paar gute geben? Werde ich es schaffen, aus dem Hamsterrad auszusteigen? Was mach ich, wenn ich alt bin? Werde ich überhaupt alt?

Mich erfasste eine Welle von Schmerz, ein taubes Gefühl im Kopf, die Hände zitterten und ich dachte, wie so oft, ich könne das Lenkrad nicht mehr halten. Panik. Durch „Rocky“?? Das kann nicht sein! Was ist aus Dir geworden, dass Du Dir von Frank Farian Gefühle diktieren lässt? Eine sentimentale Kuh? Ich hielt mein Lenkrad und dachte an die dunklen Mächte in mir. Die gnadenlos Erinnerungen hochholen und nicht fragen, ob ich sie will. Gibt es einen Ausweg? Klar. War doch nur eine Stimme und eine Stimmung. Radio aus. Weiterfahren.

Mein neues Leben.

Hier muss ein erster Satz stehen. Dann geht alles, wie von allein. Mein erster Satz ist heute nicht der da, sondern dieser: Klarheit ist der neue Rausch. Las ich heute bei einer Facebook-Freundin. Ich kann es nicht bestätigen. Klar ist es wunderbar, klar zu sein.

Nüchtern und dazu – mit relativ leerem Magen – Kräutertee und Trampolin. Dem harten Leben ohne mit der Wimper zu zucken ins Auge blicken. Klarsehen. Klardenken. Klarhandeln. Was für eine Aussicht! All die guten Dinge aus dem Bilderbuch des wohlfeilen Lebens fliegen mir zu. Ab und an eine Zigarette. Die gönne ich mir. Ok, ich denke darüber nach, auch die ins abgelegte Lotterleben abzuschieben. Ja. Da steh ich. Bereit zu neuen Taten.

Was könnte ich tun? Mir fällt nichts ein. Zu Partys kann ich nicht, weil es mich zum Weintrinken animiert. Schön essen gehen kann ich nicht, weil ich nicht auch noch vegan werden will und alle anderen gastronomischen Verlockungen nicht meinen rigiden Essensregeln entsprechen. Kein Fett. Kein Zucker. Kein Sonstwas.

Ins Kino gehen? Bedeutet Popcorn und Sekt. Da gibts auch Cola? Zum Klarbleiben? Zu viel Zucker. Ins Theater! Ich sehe zu klar, um Theater im nicht-beschwipsten Zustand zu ertragen. Bücher lesen. Das geht und das tu ich. Ich lese meine Regale leer. Und kann doch keinen klaren Gedanken fassen. Ich frage mich: Ist das das Leben, das Du Dir vorgestellt hast?

MEIN NEUES LEBEN. Irgendwie nicht. Verreisen, das wäre es! Was dort für Gefahren lauern? Die gleichen, wie hier. Du musst Dein Leben ändern! – Hab ich doch grad. Klarheit ist der neue Rausch. Ein Rausch der Sinne ist es nicht. Ein verkopfter Rausch. Ein verrauschter Kopf. Rauschschmiss! Ich taumele klaren Blickes ins Ungewisse.

Foto: Ich – 2014.

Meine erste Hochzeit

Da bin ich wie die Jungfrau zum Kind gekommen. Erster Freund. Erstes Mal. Und – „es hat Zoom gemacht“. Hat geklappt. Irgendwann musste ich das meiner Mutter sagen: Ich bin – glaub ich – schwanger. Wann heiratet Ihr? – war keine Antwort, sondern eine Frage. Wann heiratet ihr.

Denn es war eine Zeit, in der noch geheiratet wurde – wegen eines Kindes. Du sollst doch keine „Sitzengelassene“ sein. Also „musste“ ich heiraten. Sicher hätte ich protestieren können. Und ich glaube nicht, dass meine Eltern mich gezwungen hätten. Aber ich war immer ein braves Kind. Ich war siebzehn und in einem Viertel Jahr achtzehn. Das richtige Alter. Also Hochzeit.

Ich habe mich um nichts gekümmert. Das übernahmen der Angetraute in spe, seine und meine Eltern. Nur ein schreckliches weißes Kostüm, mit weißer Bluse und silbernem Stehkragen erstanden meine Mutter und ich einen Tag vor der Hochzeit. Es gab einfach nichts anderes. Ich war im fünften Monat, aber man sah es noch nicht, das Kleinste passte. Die Hochzeit fand an einem 17. Juli statt. Alle Verwandten und auch ein paar Freunde wurden herbeigerufen und unter den Klängen von Mendelssohns „Hochzeitsmarsch“, gespielt von einem Altherrenquartett, marschierten wir in den Hochzeitsraum des Standesamtes.

Es war feierlich. So feierlich, dass mir schlecht wurde und ich begriff, hier passiert irgendetwas, das mein Leben verändern könnte. Ich hatte gerade die 11. Klasse beendet und wollte mein Abitur machen. Ich wohnte bei meinen Eltern. Mein Freund durfte bis zu diesem Tag nicht bei mir übernachten. Selbst, als sie wussten, dass ich schwanger bin und wir gemeinsam in einem Osterurlaub waren, buchten sie für ihn und für mich unterschiedliche Zimmer. Wir waren ja noch nicht verheiratet. (Ich bin natürlich heimlich nachts zu ihm geschlichen).

Also Standesamt: Alle weinten. Ganz besonders laut meine Oma. Ich verstand nicht, was es da zu weinen gibt. War das nicht ein Tag der Freude? Nein, war es nicht. Ich hatte einen Ziegelstein im Bauch und gab mich der kurzen Überlegung hin, dass ich auch „NEIN“ sagen könnte. Aber dann, nachdem die Standesbeamtin ihre langweilig herunter geleierte Rede beendet hatte, fragte sie natürlich: Wollen Sie den hier anwesenden Herrn – na ja und so weiter. Ich sagte: Ja. Und ärgerte mich gleichzeitig, weil ich gern NEIN gesagt hätte. Danach mussten wir in ein Fotostudio und uns fotografieren lassen. Und später ins „Haus des Handwerks“ zum Mittagessen.

Mir war schlecht und mir gingen allerhand böse Gedanken durch den Kopf. Warum hast Du nicht NEIN gesagt? Dann zogen wir in die Wohnung meiner Eltern, die für die vielen Gäste viel zu klein war und brachten irgendwie den Nachmittag herum. Ich schaute mir die Geschenke an, die in erster Linie aus Haushaltsgegenständen für einen Haushalt, den wir nicht hatten, bestanden. Aber egal. Vielleicht ist mir deshalb nur noch der überdimensionale Pantoffel aus Holz im Gedächtnis geblieben, den jemand mit „Pantoffelheld“ in Ritztechnik plus bunten Blumen verziert hatte. Er lag noch jahrelang in meinem Kleiderschrank und irgendwann, wir waren längst geschieden, warf ich ihn in eine Mülltonne.

Weitere Rituale blieben uns erspart. Das weiße Kostüm und das bescheuerte Brautdiadem flogen gleich am Nachmittag in die Ecke und wurden gegen ein tragbares Kleid getauscht. Mir blieb dieses mulmige Gefühl im Magen. Und so konnte ich mich auch nicht auf das üppige Abendbüfett freuen, das meine Schwiegermutter aus dem Interhotel der Stadt „organisiert“ hatte, in dem sie Küchenchefin war. Tausendmal an diesem Abend musste ich mir anhören, dass das ein Büfett wäre, wie es auch „Partei und Regierung“ bei ihren Gelagen verspeisen. Es gab da allerlei Dinge, die ich noch nie gesehen hatte und auch nicht so schnell wieder sehen würde. Geschweige denn essen. Zum Beispiel stand da ein großes Brett, auf dem sich Forellen befanden, die aussahen, als ob sie noch lebten. Sie waren steif und gebogen und schauten genauso traurig wie ich.

Ich hab an diesem Tag keinen Bissen herunterbekommen. Ich kann mich an kein einziges Gespräch erinnern, nur noch daran, dass mein frisch gebackener Ehemann das erste Mal mit mir in meinem Kinderzimmer übernachten durfte. Auf Liegen über Eck. Das nannte sich Hochzeitsnacht. Er schlief sofort ein.

German Angst und German Freude.

Angst. Doppelgänger. Gesundheit. Schadenfreude. Oder Weltschmerz. Worte, die das Deutsche auf fremde Zungen exportierte. Interessant, dass man uns und unserer ansonsten nicht so beliebten Sprache ausgerechnet solche Worte „abkauft“. Und nicht so etwas wie den Metallklorollenhalter. Oder die Straßenbahnhaltestelle. Wahrscheinlich zu lang. Zu bedeutungslos. Wir Deutsche sind die selbsternannten Bedeuter des Bedeuteten.

Trotzdem Welt-Angsthasen. German Angst ist so cool. Wir sind romantische – Doppelgänger. Sorgen uns Tag und Nacht um unsere Gesundheit und haben gern mal eine Schadenfreude. Statt ausgelassener Freude bevorzugen wir –  Weltschmerz. Im Übrigen ist auch Zeitgeist typisch deutsch. Der ist ein ganz besonderer deutscher Geist. Temporärer Spiritus. Bruder des Weltschmerzes. Weltschmerz ist nichts anderes, als eine Haltung des Geistes. Bevorzugt des deutschen Geistes. Und während die Amerikaner sich bei uns das Fahrvergnügen leihen – aus dieser harten, deutschen Sprache – bauen wir fleißig weiter Autos. Und haben Angst, dass wir die Führung verlieren könnten – beim Schneller-Höher-Weiter des Autobaus.

Der Dauerbrenner auf Partys ist es zu lamentieren. Kommt überall gut an, das beliebte Spiel der Erwachsenen: Ist es nicht schrecklich? Dieses, dieses, das und dies. Alles! Dieses Leben. Diese Verpflichtungen. Diese Arbeit. Miete. Sorgen. Nöte. Diese EU. Diese aufmüpfigen Ossis. Diese Frauen. Diese Männer. Diese Veganer. Diese Kinder. Dieses Bildungssystem. Diese Nachbarn. Diese… ich hol mal kurz meinen Duden und füge beliebig Wörter ein. Ok, ok – mach ich nicht. (Kleine Randbemerkung: Ich habe fünf Duden im Bücherregal, weil meine Mutter die offenbar im Sonderangebot günstig erstand und mir fünfmal hintereinander zum Geburtstag einen schenkte. War allerdings in den Neunzigern.

Natürlich schau ich da jetzt nicht rein, es gibt ja duden.de). – Vom UNS zu mir: Auch ich bin mitnichten von elfenhafter Leichtigkeit. Weder körperlich und schon gar nicht geistig. Natürlich zermartere ich mir Tag und Nach das Hirn, was der Sinn dieses Leben sein könnte. Leider kann ich keinen abschließenden Bericht liefern. Was ich weiß: Es geht rasend schnell vorbei. Ich sollte jeden Tag beim Aufwachen kreischen vor Glück, weil ich noch so einen Tag geschenkt bekomme. Vielleicht noch ein Jahr. Oder ein Jahrzehnt. Je weiter ich davon entfernt war, mir diese Gedanken zu machen, desto intensiver badete ich in deutschem Weltschmerz.

Die Welt braucht meinen Schmerz nicht, aber ich brauche die Welt, fällt mir da in Abwandlung eines mahnenden Spruches der frühen Ökobewegung ein. Adieu, Weltbetrachtung. Ciao, Weltschmerz. Ich geh jetzt zur Straßenbahnhaltestelle, um hernach einen Metallklorollenhalter zu kaufen. Leben geht immer weiter. Irgendwie. Ach, ich hab noch was vergessen: Wir sind höflich, wir Deutschen. Und pünktlich sind wir auch. Wir reden nicht so laut. In der Öffentlichkeit. Mit Ausnahme der Sachsen. Ein Vorurteil? Sachsen sprechen sächsisch. Und das ohne Hemmungen – überall. Ich liebe – wie alle anderen auch – meine Vorurteile. Sie strukturieren meine Wahrnehmung. Jeder hat sie. Ausnahmslos. Sehr lobenswert diejenigen, die sich dessen bewusst sind. Und ab und an den Versuch starten, vorurteilslos irgendeine Sache zu betrachten. Ich gebe zu, mir gelingt das nicht immer, aber immer öfter. Ich bin übrigens aus Sachsen. Und ich spreche leise.

Das Ungenügen an mir (selbst) oder die neue wunderbare Kunst

Peter Sloterdijk schreibt in seinen Notizen 2008-2011, die er „Zeilen und Tage“ nennt, über Jonathan Meese, der in einer Debatte – vermutlich einer Künstlerdebatte – junge Diskutanten mit der These begeisterte, dass die Kunst heute so wunderbar sei, weil man bei ihr endlich gar nichts mehr können müsse. Und – jeder charakterisiere seinen mentalen Status durch die Bedeutung, die er diesem Satz beilege. Ja, nun? Darf ich glücklich sein, ohne etwas zu können, meine Erzeugnisse dennoch Kunst nennen zu dürfen? Oder gehe ich in mich – wie immer – und frage: Ist es Kunst? Ist es Gebrauchskunst? Ist es gar schnödes Kunstgewerbe, was ich da drechsle.

Ich drechsle ja kein Holz,  mische keine Farben, ich behaue keinen Stein, schreibe keine Noten und spiele auch nicht Klavier oder Geige. Ich schreibe Worte. Einfach Worte. Aneinanderreihen. Das kann schließlich jeder. Jeder hat in der Schule schreiben gelernt. Jeder kann sprechen. Also irgendwie mit Worten umgehen. Jeder kann es. Nur manche besser. Und während der Bildende Künstler endlich froh sein darf, dass er seine Kreation, die möglicherweise ohne ein Können entstand, einfach Kunst nennen darf, muss der Wortedrechsler vorsichtig sein. Es kann ihm zu sehr ins Schreibwerk geschaut werden – von all den Wortkönnern per se. Den Schreibern per Unterstufe.

Oft frage ich mich: Darfst Du Dich Autorin oder Texterin nennen? Kannst Du es besser, als andere? Was ist es, was Dich unterscheidet, dass Du es zum Beruf machst? Ja, ich kämpfe mit mir. Kämpfe täglich mit dem Ungenügen an mir. Selten schreibe ich etwas, zu dem ich begeistert sage: Ja! Das ist Dir gelungen! Das ist super! Selten klopfe ich mir auf die Schulter und rufe: Phantastisch! Das wird den Anderen gefallen. Denn die Anderen sind es ja, für die wir schreiben, malen, musizieren oder was diese freie Kunst heutzutage noch so alles kann.

Ich glaube daran, dass manche mehr Talent haben, als andere. Ich glaube daran, dass das, was in der Kunst bleibt, mit Können zu tun hat. Das Bleiben ist es. Ein überhitzter Kunstmarkt, ein verschwatztes Feuilleton kann für eine gewisse Zeit seine Lieblinge hochschreiben, wie man das heute nennt. Aber bleiben sie? Selbst unsere Nationalheiligen Goethe und Schiller werden es schwer haben, die neuen Zeiten zu überstehen. Man wird sie weiter loben und für ewig bedeutend erklären. Aber werden sie gelesen? Freiwillig? Wenn ich mir die heutige Jugend ansehe, liest die lieber im Handy, als in den Folianten der Bibliotheken oder der elterlichen Bücherregale.

Wir befinden uns mitten in einer Zeitenwende von beispiellosem Ausmaß. Alles wird auf den Prüfstand gelegt. Egal, ob die Hersteller es per definitionem „konnten“ oder nicht. Kunst ist am Ende das, was bleibt. Und dieses Bleibende kann auch wieder verschwinden. Wie wir alle. Wie unsere Gewissheiten und Vorstellungen von uns und von der Welt. Ich bleibe demütig.

Woran man im Alter hängt

 Ja, in dem Alter bin ich schon. Ich denke darüber nach, wie das so weitergeht mit dem Alter, mit dem Altwerden. Und auch darüber, was ich loslassen werde und muss. Und woran ich hänge. Der Mann im Haus gegenüber – ich nenne ihn Hausmeister Krause – steht jeden Tag im Blaumann vor der Tür und wartet auf die BSR – die Berliner Stadtreinigung.

Hausmeister Krause bewacht seine Tonnen und überlässt sie den jungen kräftigen Kerlen von der Stadtreinigung nur für kurze Zeit. Unruhig und beinahe streitlustig hält er an den Tonnen fest und läuft mit zum Auto, in das die Entleerung stattfindet. Dann kommt sein Part. Er schiebt die Tonnen zurück in den Hof. Hausmeister Krause ist ungefähr 90. Groß und dünn. Und er raucht. Steht vor dem Haus, raucht und wartet auf seine Freunde von der Stadtreinigung. Er hat einen Blaumann an. Er arbeitet. Mit den Tonnen. Er hat eine Aufgabe.

Einmal nachts stand ein Rettungswagen vor der Tür. Die Sanitäter wollten Hausmeister Krause retten. Offensichtlich hatte jemand angerufen, dass es ihm schlecht ginge. Ich stand aufgeregt auf dem Balkon und rauchte. Wird das seine letzte Fahrt? Aber nein! Mit Todesverachtung machte er sich von den Rettungssanitätern los und stieg selbständig in das Rettungsfahrzeug. Und kam am nächsten Tag wieder nach Hause. Zu seinen Tonnen. Zu seiner Arbeit, die ihn am Leben hält. Das ist ein Jahr her. Und Hausmeister Krause hält weiter Tag für Tag an seinen Tonnen fest. Seine Tonne Leben! Ich liebe es, ihm zuzuschauen und lerne von ihm: Solange Du eine Aufgabe hast, ist es noch nicht vorbei.

Foto: Die Mülltonnen im Haus gegenüber – unserem Haus in Berlin-Charlottenburg.

Möhren, Gänsebraten oder Sex.

Veganer, Vegetarier, Frutarier, Flexitarier, Vollwertköstler, Blutgruppendiätler, Ayurveda-Genießer. Essensregler und -beschränker. Zutaten- und Kalorienampelstudierer. Bio- und Waagenfetischisten. Wir sind mittendrin – in der Überflussgesellschaft, in der Nahrungsmittel wie Porno sind! Und Porno wie Nahrungsmittel.

Ich las letzte Woche einen der vielen Artikel, in dem es – auch – um Essen als neue Religion ging. Ich las, dass es in der menschlichen Gesellschaft schon immer so gewesen sei, dass entweder das Essen oder eben der Sex tabuisiert werden.

Wenn das stimmt, dass nunmehr wieder das Essen im Tabubereich angekommen ist, müsste Sex sich in die Gefilde der völligen Enthemmung bewegen. Eine Tendenz, die nicht zu leugnen ist. Die menschliche Sexualität wird jedes Geheimnisses beraubt. Es gibt Sexualkunde-Lehrpläne für Schüler im vorpubertären Alter, für deren Inhalte ich unter den Tisch kriechen möchte. Vor Scham und auch Empörung.

Und ich sehe auf der Facebook-Startseite der „LAG Queer – Die Linke. Sachsen“, ein Foto, vermutlich von einer Demo, das mich tatsächlich leicht „aus den Latschen kippt“. „Porno statt Adorno“ – naja, ist noch ganz lustig, aber es geht weiter: „Sperma im Haar statt Kuchenbasar“, „Rudelfick statt Physik“, „Muschi, Pimmel, Regenbogen – So wird ein Kind erzogen“ – das also und noch mehr sind die Forderungen dieser Gruppierung, die sich auch die Abschaffung des Zweigeschlechtermodells in der Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat. Auf Regenbogenfahnen, die dieses unwirkliche Szenario umwehen. –

Nun, ich weiß nicht, was derart „Enthemmte“ so essen. Gemäß ihrem Motto: „Bei uns kannst Du sein, wie Du bist!“ (vorn im Bild auf einem Groß-Plakat) dann doch ALLES, oder? Tja, nun denke ich angestrengt darüber nach, wie die sexuellen Vorlieben, Hemmnisse oder Enthemmungen der Essensreligiösen sein mögen? Wenn ich tagtäglich Gebote und Verbote einhalten muss und ständig mit dem Essen und dem darüber Nachdenken beschäftigt bin… ich weiß es nicht. Ich muss wohl private Feldstudien anstellen. Und dann soll das alles ja auch noch Politik sein. Cui bono? Wem nützt es? Ich habe keine Antwort. Erst einmal freu ich mich auf den Gänsebraten.

Ich gendere Dir – was?

Veganer, Vegetarier, Frutarier, Flexitarier, Vollwertköstler, Blutgruppendiätler, Ayurveda-Genießer. Essensregler und -beschränker. Zutaten- und Kalorienampelstudierer. Bio- und Waagenfetischisten. Wir sind mittendrin – in der Überflussgesellschaft, in der Nahrungsmittel wie Porno sind! Und Porno wie Nahrungsmittel.

Ich las letzte Woche einen der vielen Artikel, in dem es – auch – um Essen als neue Religion ging. Ich las, dass es in der menschlichen Gesellschaft schon immer so gewesen sei, dass entweder das Essen oder eben der Sex tabuisiert werden. Wenn das stimmt, dass nunmehr wieder das Essen im Tabubereich angekommen ist, müsste Sex sich in die Gefilde der völligen Enthemmung bewegen. Eine Tendenz, die nicht zu leugnen ist. Die menschliche Sexualität wird jedes Geheimnisses beraubt. Es gibt Sexualkunde-Lehrpläne für Schüler im vorpubertären Alter, für deren Inhalte ich unter den Tisch kriechen möchte. Vor Scham und auch Empörung.

Und ich sehe auf der Facebook-Startseite der „LAG Queer – Die Linke. Sachsen“, ein Foto, vermutlich von einer Demo, das mich tatsächlich leicht „aus den Latschen kippt“. „Porno statt Adorno“ – naja, ist noch ganz lustig, aber es geht weiter: „Sperma im Haar statt Kuchenbasar“, „Rudelfick statt Physik“, „Muschi, Pimmel, Regenbogen – So wird ein Kind erzogen“ – das also und noch mehr sind die Forderungen dieser Gruppierung, die sich auch die Abschaffung des Zweigeschlechtermodells in der Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben hat. Auf Regenbogenfahnen, die dieses unwirkliche Szenario umwehen.

Nun, ich weiß nicht, was derart „Enthemmte“ so essen. Gemäß ihrem Motto: „Bei uns kannst Du sein, wie Du bist!“ (vorn im Bild auf einem Groß-Plakat) dann doch ALLES, oder? Tja, nun denke ich angestrengt darüber nach, wie die sexuellen Vorlieben, Hemmnisse oder Enthemmungen der Essensreligiösen sein mögen? Wenn ich tagtäglich Gebote und Verbote einhalten muss und ständig mit dem Essen und dem darüber Nachdenken beschäftigt bin… ich weiß es nicht. Ich muss wohl private Feldstudien anstellen. Und dann soll das alles ja auch noch Politik sein. Cui bono? Wem nützt es? Ich habe keine Antwort. Erst einmal freu ich mich auf den Gänsebraten.

Der diskrete Charme der Jahresendflügelpuppe.

Habt Ihr in der DDR überhaupt Advent gefeiert? Fragt mich meine Freundin, für die die DDR ein fernes unbekanntes Land ist. In einem Land, in dem Religion „Opium fürs Volk“ sein sollte, keine unberechtigte Frage. Dieses Opium wurde nicht gern verteilt. Meine Frohe Botschaft lautet dennoch: Es gab Weihnachten. Es gab den Advent. Natürlich sprach man seltener von Jesu Christi Geburt. Auch das Wort Christkind tauchte in offiziellen Verlautbarungen nicht auf. Es sei denn, man ging in die Kirche.

Ja, es gab Menschen, die gingen an Weihnachten in die Kirche. Sich das Krippenspiel anschauen. Auch Engel gab es in der DDR. Und damit meine ich die figürlichen Darstellungen, denen man unterstellt, „Jahresendflügelpuppe“ oder „Jahresendflügelfigur“ geheißen zu haben. Noch steht der Beweis dafür aus. Das Gerücht in Bezug auf diese politisch-motivierte sprachliche Entgleisung hält sich aber hartnäckig. – Ich habe Engel gekauft. Aber sie hießen – Engel. Wir wussten, was ein Engel ist. Klar gab es Sprachverordnungen. Wie es sie heute auch gibt. Es gab Tabu-Wörter, wie es sie heute auch gibt. Zunehmend stelle ich fest, wie sehr die Sprachzwänge in den Gefilden der heutigen „Freiheit“ denen der Sozialismus-Aufbauer ähneln.

Der Wahn, missliebige soziale Umstände mit Worten zu kurieren, treibt lächerliche und auch ärgerliche Blüten und Auswüchse. Folgt mir „Zurück in die Zukunft“: Ja, wir hatten eine eigene DDR-Sprache, eigene Wortschöpfungen vom Akten-Dully bis zum Weich-Container, wobei dieser – es sollte ein Sack sein – wahrscheinlich auch ins Reich der Legenden gehört. Wir hatten das labberige Malimo – ein Stoffgewirk, erfunden von Heinrich Mauersberger aus Limbach-Oberfrohna im Erzgebirge – wir hatten Broiler, Dispatcher und den Klassenfeind. Wir hatten Wandzeitungen, das „Abkindern“ eines Ehekredites und die Bück-Ware unter den Ladentischen.

Die Liste der DDR-Wort-Eigenarten ist lang. – Zurück in den Advent. Zurück zur Jahresendflügelpuppe. Erklärt wird deren angeblich verordnete Existenz mit der Religionsfeindlichkeit des DDR-Systems. Die war zweifelsohne vorhanden. Trotzdem gab es Kirchen und Pastoren. Gab es Gemeinden. Gab es ein Theologiestudium an den Universitäten. Auch wurde Weihnachten nicht abgeschafft, wie beispielsweise in der Sowjetunion. Die strich kurzerhand den Heiligen Abend – der ohnehin wegen der Kalenderverschiebungen erst im Januar war – und ließ stattdessen das Jolka(Tannenbaum)-Fest an Sylvester feiern. Mit Väterchen Frost und Snegurotschka – dem Schneemädchen, ein Engelersatz.  Väterchen Frost – ein Ersatzweihnachtsmann.

Wir aber behielten den richtigen Weihnachtsmann –  alter ego des Christkindes. Und behielten den Heiligen Abend, den man getrost so nennen durfte,  auch den 1. und 2. Weihnachtsfeiertag mit Gänsebraten, Geschenken und Verwandtschaft. Davor  Advent, Adventskränze und vier Kerzen darauf. Klar, es wurde kaum darüber gesprochen, was das Weihnachtsfest bedeutet, aber verboten war es nicht. Klar, Engel waren nicht unbedingt die Favoriten am Weihnachtsabend. Aber verboten waren sie nicht. Und der Begriff Jahresendflügelpuppe wäre zwar irgendwie passend gewesen – so als DDR-Ersatzsprache – wie heutzutage ein Winter- oder Lichterfest statt eines Weihnachtsmarktes. Aber ich verweise diese Wortschöpfung ins Reich der Legende. Ich habe das in meiner DDR-Lebenszeit niemals gehört.

Meine Mutter übrigens – die große Kommunistin – legte am 24. Dezemberabend zu Beginn der „Bescherung“ stets die Schallplatte mit dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach auf und dirigierte eigenhändig „Jauchzet, frohlocket…“  ich seh‘ sie heute noch vor mir. Und weiß – dass das Heilige nicht verbietbar oder ausrottbar ist, dass es sich immer wieder durchsetzt. Menschen brauchen das Heilige neben dem Profanen. Zu Weihnachten ganz besonders.