Meiner Großmutter Eleonore Jaeger – genannt Laurie – zum 125. Geburtstag

Meine Oma. Sie war die gute Oma. Die Oma Jaeger. Ich hatte auch die böse Oma. Oma Pfeifer. Die gute Oma war die Mutter meiner Mutter. In den ersten Lebensjahren meine tägliche Begleiterin. Von ihr lernte ich das Sprechen. Von ihr lernte ich, was im Leben wichtig ist. Noch heute fällt mir bei fast jedem Ereignis ein Spruch meiner Oma ein. Noch heute träume ich von ihr.

Oma Jaeger war aus Böhmen. Aus dem Wald. Ihr Vater war Analphabet und Köhler. Ihre Mutter bekam Kinder. Es waren 17. Denn in Böhmen war man katholisch. Verhütung gab es nicht. Meine Oma sowie ihre ältere Schwester Emilie und ein Bruder wurden erwachsen. Die anderen 14 Kinder starben. In verschiedenen Lebensaltern. Der älteste der gestorbenen Geschwister wurde 12. Die Mutter war immer schwanger und starb mit Mitte vierzig. Meine Oma musste – ehe sie morgens zur Schule ging – zeitig aufstehen und klöppeln. Das Geld, das der Vater verdiente, reichte nicht. Sie wollte Lehrerin werden. Doch das ging nicht. Obwohl sie in der Dorfschule nur Einsen hatte und die Lehrerin sie bei ihrem Vorhaben unterstützte. Der Vater entschied, dass sie mit vierzehn die Schule beenden und arbeiten müsse.

Sie lernte den Beruf einer Schneiderin und brachte es bis in die Stadt Wien, wo sie sehr lange Hausangestellte bei „Herrn Hahn“ war. Herr Hahn – eine feste Größe in ihrem und in meinem Kinderkopf. Herr Hahn sagte nur wichtige Dinge und war entweder der Guru oder der Geliebte meiner Oma. Das lässt sich heute nicht mehr feststellen. Herr Hahn lehrte sie offenbar alles, was ein Mädel aus dem Hinterwald von ihren Eltern nicht beigebracht bekommen hatte: Etikette, Beredsamkeit, Ehre, Moral für den Großstadtgebrauch. Und natürlich alles, was ein Wiener Haushalt der Mittelschicht so erforderte. Herr Hahn war einiges älter als meine Oma. Und als er starb, erbte sie sein Vermögen. Er hatte keine Verwandten oder bedachte diese nicht. Auch das verliert sich im Dunkel der Geschichte.

Wo meine Oma ihren Hallodri-Ehemann kennenlernte, weiß ich nicht. Er war ein „Geschiedener“ – damals etwas anrüchig. Und hatte – neben der geschiedenen Ehefrau, eine Tochter. Er war kein Österreicher. Und stammte aus dem Harz, aus Osterwieck in Sachsen-Anhalt, dem Bundesland, in dem ich heute wohne. Meine Oma war mittlerweile ein „spätes Mädchen“, ein ziemlich spätes Mädchen. Und er fünf Jahre jünger.

Oma und Opa – damals ein verrücktes Liebespaar – beschlossen, mit Omas Erbe nach Brasilien auszuwandern. Gesagt, getan. Erste Station war Hamburg. Der Hafen Hamburg. Mit dem Postdampfer „Antonio“ wollten sie die Überfahrt ins Ungewisse wagen. Doch man wollte Oma nicht mitfahren lassen. Sie war nicht verheiratet. Und nur verheiratete Frauen durften an Bord. Doch war der Hafen auf die Situation meiner unverheirateten Großeltern in spe eingestellt. Es gab dort ein Standesamt, auf dem die beiden eine Turbo-Eheschließung absolvierten. Trauzeugen waren zwei Kellner aus dem Hafenrestaurant. Dann gings los – in Richtung Rio de Janeiro. Ich habe heute noch Postkarten vom Schiffsinneren und Speisekarten. Sie hatten die 3. Klasse/Kammern und Wohndeck. Dennoch – diese Speisekarten waren nicht schlecht. Da frag ich mich, was es in der 1. Klasse gab.

Ich will es nicht in die Länge ziehen. Sie sind angekommen. Und haben sich ein Leben und ein Geschäft in Rio de Janeiro aufgebaut. Meine Mutter ist dort geboren. Nur eine Anekdote, um das Wesen meiner Oma und das meines Opas zu illustrieren:

Kaum waren sie angekommen, ging mein Opa auf Zimmersuche. Am Abend kam er zurück in die Absteige, in der beide wohnten und rief: Ich habe ein wunderbares Zimmer für uns gemietet – mit Klavierbenutzung. 80 Dollar! – Ob für eine Woche oder pro Monat, vermag ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall – laut meiner Oma – zu viel. Sie fragte: Spielst Du Klavier? Er: Nein. – Sie fragte weiter: Spiele ich Klavier? Er: Nein. – Sie: Dann geh sofort dorthin zurück und mach den Mietvertrag wieder rückgängig. Das tat er dann auch.

Meine Oma war die, die alles zusammenhielt. Die Vernünftige. Er war impulsiv, aber nicht faul und auch nicht vollkommen unvernünftig. Er hatte später eine Buchhandlung. Sie eine Schneiderei.

Und er war eifersüchtig. Traf er sich abends mit Freunden zum „Trinken“, spannte er vor der Wohnungstür Bindfäden, die er beim Heimkommen kontrollierte.

Meine Oma wollte immer eine „feine Frau“ sein, sie hielt sich sehr gerade und trug immer Hut und Handtasche, wenn es wichtig war. Er starb mit 54 an Krebs und sie mit 70 an einer Lungenembolie.

Leider war ich war zu jung, um das zu erfahren, was ich heute fragen würde.

Foto: Meine Großeltern in Rio de Janeiro. Links die beiden sind es.

Meine Mutter war Diplom-Kommunist und ich liebte den Schifferklaviermann – Traumfamilien 2

In der DDR stand im Klassenbuch, was die Eltern für Berufe haben. Bei mir lange Zeit Diplom-Ingenieur – mein Vater. Diplom-Journalist – meine Mutter. Wir wurden ständig nach den Berufen unserer Eltern gefragt. Warum das so wichtig war? Gut war es, zur herrschenden Arbeiterklasse zu gehören. Wir waren ein Arbeiter- und Bauernstaat. Wir hatten eine Diktatur des Proletariats. Aber das lernte ich erst später. Meine Eltern nannten sich Kommunisten. Ein gewaltiges Wort. Der Kommunist war der neue Mensch, den wir bewunderten. Er begegnete uns auf Plakaten und im Lesebuch. Meist war es ein Arbeiter mit kräftigen Armen und einem Hammer in der Hand. Oder er drehte an großen Rädern herum. Dazu eine Frau, die auch irgendetwas in der Hand hatte. War es eine Sense? Ich glaub, das sollte die Bäuerin sein. Der Kommunist war in erster Linie männlich, wie unsere Regierung. Die bestand auch nur aus Männern. Wilhelm Pieck, der Präsident. Walter Ulbricht, der Staatsratsvorsitzende und gleichzeitig der 1. Sekretär der Partei. Die Partei. Es gab für uns nur die eine. Dass noch ein paar andere da waren, dass die später dann Blockflöten genannt wurden, wusste ich als Erstklässlerin nicht. Kommunisten waren alle, die gut waren. Alle, die arbeiteten und für unser Wohl sorgten. Alle, die für den Frieden kämpften und uns gegen die „Bonner Ultras“ verteidigten. Ich stellte mir die Kommunisten als überirdische Wesen vor. Gut und freundlich. Alles teilend. Und immer einen exzellenten Rat auf den Lippen. Natürlich wollten wir alle Friedenskämpfer sein und Kommunisten werden. Und so sagte ich – auf Nachfrage meiner ersten Lehrerin, Frau Leipold – dass meine Mutter Diplom-Kommunist wäre. Die Lehrerin konnte sich das Lachen kaum verbeißen, aber nickte mild. Ich verstand nicht, was es da zu lachen gibt. Schließlich war meine Mutti doch die Beste. Die Allerbeste, wie sie täglich nach der Arbeit berichtete. Sie war Betriebszeitungsredakteur im VEB Schwermaschinenbau Lauchhammer. Ein riesiges Werk, das heute – ich hab es nachgeprüft – dem Erdboden gleichgemacht ist. Der zweite große Betrieb – in dem die meisten Eltern arbeiteten – war die Großkokerei. Wir Lauchhammer-Kinder lernten früh, dass die Arbeiter und Forscher und Friedenskämpfer der Großkokerei eine Großtat vollbracht hatten. Sie ertüftelten, wie man aus Braunkohle Koks herstellen kann. Was vordem nur aus Steinkohle ging, die wir in der DDR nicht hatten. Koks brauchte die Republik, um besser zu werden und irgendwann die „Bonner Ultras“ wirtschaftlich einzuholen. Die Herstellung von Braunkohle zu Koks führte dazu, dass Lauchhammer das gefühlt dreckigste Nest der Republik war. Wehte der Wind aus Richtung Großkokerei, lag er einen halben Zentimeter dick auf den Fensterbrettern. Was die Hausfrauen oder die werktätigen Frauen zu besonderen Saubermachorgien anspornte. Wir Kinder trugen immer helle Kleidung und sehr gern weiße Kniestrümpfe. Und natürlich – der Wettbewerb. Wer hat die saubersten Fenster, ein Thema in der Neustadt, die extra für die Kokerei-Arbeiter gebaut wurde, in der wir unsere erste Wohnung bezogen. Vier Zimmer, Küche, Bad. Bad mit Wanne und Toilette. Ofenheizung und kein warmes Wasser. Dahinter ein Spielplatz für die vielen Kinder, von dem ich heute noch träume (auch der ist mittlerweile plattgewalzt). Wir zogen etwas später ein, als die anderen. Ich war vier Jahre alt und fühlte mich schrecklich. Lauter neue Kinder. Meine ersten Bekanntschaften hießen Ines und Lutz. Über uns wohnte Marlit. Gegenüber eine Familie, deren Vater immer Akkordeon spielte und dazu einer Schiffermütze trug. Und ein gestreiftes Nicki, wie ein T-Shirt damals hieß. Wir feierten viele Hausgemeinschaftsfeste. Und zogen an Sylvester durchs Haus. Voran der Schifferklaviermann- und -vater. Abends riefen die Eltern oder Großeltern uns aus den Fenstern nach oben. Abendbrot! Am liebsten aß ich bei Gündels mit. Die hatten eine Küche, die der unseren in nichts ähnelte. Fett und irgendwie sehr deutsch. Anders als die meiner Oma, die böhmisch kochte oder die meines Vaters, der sich an den ersten „ausländischen“ Gerichten mit viel Paprika und Knoblauch versuchte. Bei Gündels gabs Bouletten, Mischgemüse und Kartoffeln. Oder Schmalzstullen. Während es bei uns die Scheußlichkeit von Nudeln mit einer Art Kümmel-Bolognese ohne Tomaten gab. Ich wollte bei Gündels sein. Weil dort nicht so viel über den Frieden, den Kommunismus und die Arbeit gesprochen wurde. Dort tuschelte man über die Nachbarn und dazu sang der Schifferklaviermann Seemannslieder. Zum zweiten Mal wünschte ich mir, zu jemand anderem zu gehören. Zu denen. Nicht zu meinen jungen aufstrebenden Eltern, die keine Zeit für mich hatten. Mussten sie auch nicht. Ich war in der Schule ein Selbstläufer und brav wie ein Musterkind. Dafür durfte ich zum Geburtstag zwanzig Kinder einladen. Das durfte sonst niemand. Alle wollten meine Mutter zur Mutter haben, weil sie so schön war. Tja, irgendwie will jedes Kind immer das Andere. Ich wollte die Tochter des Schifferklaviermannes sein und bei Gündels fettes Zeug essen und interessanten Klatsch und Tratsch hören. Ich fand meine Familie nicht normal. Und wollte einfach nur normal sein. Ein Wunsch, den ich noch oft haben sollte. Ok, ich hatte auch eine Freundin, deren Vater Steuerberater war. Das fand ich exotisch. Ich stellte mir vor, dass der neben dem Fahrer eines Autos sitzt und ihn beim Fahren berät. Was für ein Beruf! Was war dagegen schon Dipl.-Ingenieur oder Dipl.-Journalist. Ja, meine Mutter war Dipl.- Journalist und –Kommunist. Eine weibliche Form hatten wir nur bei Berufen, die von Männern nicht ausgeübt wurden, wie Kindergärtnerin oder Krankenschwester. – Irgendwann zogen wir weiter. Ich hatte zwischenzeitlich noch eine kleine Schwester bekommen. Und als ich die dritte Klasse in Lauchhammer beendete, war unser Ziel mal wieder – Leipzig. Mein Vater hatte ein neues Jobangebot.

Foto: Feierbild in Lauchhammer – Sylvester, deshalb die seltsamen Hüte – „Hausgemeinschaft“ Werner-Seelenbinder-Str. 5 – meine Mutter ist die Zweite von links.

Aus meinem sporadischen Tagebuch – Eintrag vom 23. Juli 2018 – eine Woche vor meinem Umzug nach Magdeburg

Sitzen und schlängeln zwischen Kisten und Kasten. Überall Überflüssiges, von dem ich mich irgendwie nicht trennen kann. Ich hasse es, dass ich so aufheberisch bin. Ich entzerre große in einander gekettete Schnurkonvolute und weiß am Ende, da brauch ich nichts davon. Oder doch? Großer Topf – wegschmeißen? Hab ich den jemals benutzt? Oder vielleicht am Ende neu kaufen? Unmengen von Tellern, die keiner will. „Die waren mal teuer!“ Man, Umziehen ist echt kein Zuckerschlecken. Umziehen ist die Hölle. Ist ja nicht das erste Mal. Aber dieses Mal erscheint es mir wie die Strafe für meinen jahrelangen Kaufrausch. Da sind Klamotten dabei, die kenne ich gar nicht, die haben noch ein Preisschild. Da sind Akten von vor hundert Jahren. Die Rentenbescheide von Peter Gläser. Und die Arbeitsamtsunterlagen von kurz nach unserer Ausreise. Wie war ich dünn damals. Seh ich am Passbild von der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Und dazu hunderttausend Duschbäder, Mascara, Lippenstifte und so Zeug. Parfüme – gefühlt 80. Kann man das alles wegschmeißen? Werfe ich gerade fünfzehn Jahre Leben weg? Ja. Das tue ich.

Absprung macht jung!

Ich hasse Sport. Ich sagte es bereits in anderen Beiträgen. Aber es soll ja so gesund sein. Und wenn man alt wird, dann schaut man schon nach Gesundheitsthemen oder liest gar die Rentner-Bravo (Apotheken Umschau), nein die lese ich konsequent nicht. Aber ich hab ein Trampolin. Auf dem vollführe ich – wenn ich keine Ausrede habe – seltsame Übungen. Nur aushaltbar mit Netflix – zur Zeit sehe ich „Dark“, die erste deutsche Serie bei Netflix. Dazu vollführe ich Kniehebelauf und andere Verrenkungen, die mir noch aus meiner sportaktiven Zeit vor ca. 100 Jahren bekannt sind und ungefähr auch so aussehen. Außerdem tanze ich Twist und Cancan. Beim Cancan achte ich auf Exklusivität. Das heißt, keiner, außer mir, darf diesem Spektakel zuschauen. Nein, ich hab da keine Röcke, ich werfe nur Beine. Außerdem bewaffne ich mich mit Hanteln bzw. meinen neuen Brazils, die ich links und rechts schwenke. Es ist ein Bild für die Götter und das soll es auch sein. Denn es ist sinnfrei, wirkungslos und ätherisch. Zeus, wir wären liebliche Spielgefährten. Ich als Schwan und Du als Leda. Wir haben jetzt doch diese gendersanktionierte Geschlechterfreiheit. Ich als Sterbender, selbstverständlich, Schwan natürlich. Du als Unsterblicher. Trampolin ist prima. Wer wissen will, wie meines heißt, schicke mir umgehend eine Nachricht. Guten Abend, liebste Freunde ? Absprung macht jung!

Homeoffice – Taumellolch – Coole Kaftane – Zustandsbericht nach vier Monaten Corona

Home-Office – die verschärfte Form. Seit dem 11. März. Es gefällt mir. Ich muss nicht mehr Zugfahren. Müsste ich nicht ab und an Dinge im Draußen erledigen, ich bliebe hier – in meinem Home mit angeschlossenem Office. For ever. Vielleicht bestellte ich im Supermarkt online. Als Ausgleich spränge ich auf dem Trampolin herum, turnte nach den Videos von Gabi Fastner oder rollte auf Geheiß von Liebscher-Bracht die Faszien. Früher in der DDR, als ich noch im Hotel arbeitete, war ein Office das, was außerhalb des Gastraumes lag. Kellner trafen sich im Office mit Köchen, aßen oder tranken schnell was, unterhielten sich über die Gäste oder setzten sich kurz hin. Der Duden bestätigt mir das Office im Gastgewerbe. Home-Office hätte früher Heimbüro geheißen. Aber jetzt: My home office is my castle. Der listige Online-Duden spielt mir das vermutlich nicht-englische Wort „Lolch“ ein. Als „selten verlangtes Wort“. Kann ich mir vorstellen. Ich kenne auch keinen Lolch. – Ich kenne nur LOL, was mich nervt, wenn jemand zu einem von mir geschriebenen Posting – in sozialen Netzwerken – mit LOL kommentiert. „Lach“ ist genauso doof. – Der Lolch also. Mal schauen. „Zu den Süßgräsern gehörendes Gras mit vielen Blüten und kleinen Ähren in zwei Zeilen“. Und dann bietet sich noch der Taumellolch an, auch ein Gras. Ok, ich schwanke zwischen den Stühlen meines Home-Office wie ein Taumellolch! Sieben Stühle. Hier in meinem Home-Office. Außer der Dame vom Finanzamt war in letzter Zeit niemand hier. Sie kam, um mich zu prüfen, natürlich. Wie wäre eigentlich eine Finanzamtsprüfung in Corona-Zeiten? Oder gibt’s keine mehr? Wegen Abstand und Masken. Masken überhaupt. Auch wenn ich reichlich Zunder von meinen Lesern bekam, ich bleibe dabei: Ich trage keine Maske. Ich gehe auch ohne Maske einkaufen. Wenn ich schonmal einkaufen gehe. Ich schau die anderen mit den Masken interessiert an. Sie sagen nichts. Ich auch nicht. Ich frage mich indessen, wieso ich mindestens fünf Kilo auf der Skala des Grauens nach oben gerutscht bin, obwohl ich nur noch die Hälfte einkaufe. Gut, ich habe auch gehamstert. Legte mir Keks- und Schokoladen-, aber auch Dauerwurst- und Whiskey-Vorräte zu. Mittlerweile alles vertilgt. Wird ja vielleicht doch schlecht. So wie ich hier so langsam vor mich hingammele. Ich ertappe mich dabei, dass ich mir zwei Tage lang die Haare nicht kämme. Wozu? Ist doch egal. Nicht egal: Mein neuer online bestellter „Cooler Kaftan“. Mein Hauskleid. Sehr verführerisch, um Kilos zu verstecken. Der freundliche Nachbar fragt, ob es für dieses Kleid keinen Gürtel gäbe. Ich: Warum? Er: Naja… ach, ein Kaftan, ja, das sieht man. Cool! – Mein cooler Kaftan in Schwarz natürlich – hat große rot-blaue Blumen – vorn und hinten. Ich vermute, er macht dick. Aber, wen interessierts? Ja, ich habe zugenommen. Meine Keto-Diät ist gescheitert. Das Ergebnis: Ich esse enthusiastisch alles, was da verboten war. Kohlehydrate. Dicke, fette Kohlehydrate. Ob ich den Tag, an dem ich einen Gürtel auf den Coolen Kaftan schlingen kann, noch erleben werde? Egal, Corona hat nicht nur mich dicker werden lassen, ich höre es allenthalben auch von anderen. Nun warten wir auf die zweite Welle. Herr Lauterbach von der SPD kann es gar nicht erwarten, während er seinen Stammplatz in den Talkshows behauptet. Ich singe „Das ist die perfekte Welle“, wasche und kämme mir die Haare, bestelle mir noch einen grünen Kaftan und bin froh, dass ich für morgen alles erledigt habe. Und ich trinke ein Colbitzer Bockbier – hier aus der Region – Taumellolch schwankend zwischen den sieben Stühlen meines Home-Office.

Die Dauerwelle meines Lebens

 Achtziger. Wer sich an die Achtziger erinnert, hat sie nicht erlebt. Ich las das in den Neunzigern auf großen weißen Fahnen, die für das Falco-Musical im Theater des Westens in Berlin warben. Ich dachte: Häh! Was muss ich jetzt dabei denken? Versteh ich nicht! Ich fuhr Tag für Tag dort vorbei und irgendwann machte es „Klick“: Ach, das war ein Jahrzehnt, in dem andere sich so zugedröhnt haben und das volle Leben lebten, während ich mit drei Kindern in einer Riesenwohnung in Leipzig saß und auf meinen Mann wartete, der mal kam und mal nicht. Er war kein treuer Mann. Damals hab ich mich verzehrt nach seiner Liebe und dachte, ich könne ohne ihn nicht sein. Wie dumm von mir. Aber nicht mehr zu ändern – all die durchwachten Nächte, all die sinnlos geleerten Rotweinflaschen. Und nicht nur die. Auch rumänischer Weinbrand und irgendein saurer osteuropäischer Sekt verbitterten mir die Tage des Verrats an unserer überirdisch großen Liebe. Du musst etwas tun! Du musst etwas tun. Ich schrieb Tagebücher, die heute verschollen sind. Legte mir Liebhaber zu und begann zu fotografieren. Töpfern wollte ich lernen. Ich studierte Psychologie und ging zu allen Performances, die die Leipziger Subkultur zu bieten hatte. Ins Kino und auch mal ins ungeliebte Theater, wenn Freunde von mir mitspielten. Freunde überhaupt. Ich hatte einen übergroßen Freundeskreis und er wurde immer unüberschaubarer. Wir hatten ein „offenes“ Haus. Heute würde ich sagen: Ich war eine Salondame. Nur dass der Salon eine düstere Wohnküche war und die Dame eine wild gewordene Hausfrau mit Halbbildung, aber ausbaufähig. Ich konnte über alles reden. Das fiel mir noch nie schwer. Und so redete ich über alles und mit allen, die da kamen. Und sie kamen reichlich. Zuerst wollten sie immer meinen Mann, den berühmten Rockstar, besuchen. Beim zweiten Mal schon – kamen sie zu mir. Und so scharte ich einen Kreis aus Künstlern und Intellektuellen um mich, den mein Mann in seinen späteren Memoiren die abendlichen Besucher „unserer Kulturküche“ nannte. Es verging kein Abend, an dem wir nicht mit Freunden ausgingen oder zusammensaßen. Dazwischen wuselten unsere drei Kinder und aus heutiger Sicht haben wir uns ganz sicher zu wenig um sie gekümmert. Auch das kann ich nicht mehr ändern, so traurig es mich manchmal macht. Dennoch: Es war eine wilde Zeit, wenn ich es mit meinem heutigen Leben vergleiche. Eine wilde Zeit, die ich als brav empfand, weil ich glaubte, dass die – dort drüben – noch viel wildere Zeiten erleben. Deshalb wollte ich dorthin. Und das setzte ich auch durch. Wir verließen dieses bunte Leben in der grauen DDR, um in das gelobte Land zu gelangen, in dem dann alles ganz anders wurde, als gedacht, erträumt, befürchtet. Das Ende der Achtziger war das Ende einer Ära. Für mich. Für uns. Für die ganze Welt. Ach so, die Dauerwelle? Die einzige Dauerwelle meines Lebens hatte ich natürlich in den Achtzigern.

Foto von Edith Tar: Ich – Leipzig 1984

Schöner Frieden in der DDR

Ich war ein Kind der Fünfziger und Sechziger Jahre. In der DDR. Also ein Nachkriegskind. Und so war der Frieden bei uns – neben dem Kommunismus, später „nur noch“ Sozialismus – das höchste Gut. Alles war mit Frieden verbunden. Wir sangen im Kindergarten und in der Schule  „Kleine Weiße Friedenstaube“, wir vergötterten all die Friedenskämpfer, zu denen – angefangen bei Karl Marx und Friedrich Engels und selbstverständlich Wladimir Iljitsch Lenin – Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, anfangs auch noch Mao Tse-tung, Nikita Chruschtschow sowie alle Parteivorsitzenden und Präsidenten aller anderen sozialistischen Länder, die kommunistischen Widerstandskämpfer der Nazizeit und natürlich alle Parteimitglieder unserer Sozialistischen Einheitspartei gehörten. Auch wir Kinder waren Friedenskämpfer, wie unsere Eltern und Lehrer. Wir waren der Friedensstaat schlechthin. Wir Kinder malten Friedenstauben, schnitten sie aus und klebten sie massenhaft auf Wandzeitungen. Wie auf diesem Bild aus dem Fotoband „Olle DDR – Eine Welt von gestern“. Der beste Foto-Essay-Band über die DDR bis heute, der zu Beginn der Neunziger im Henschel Verlag erschien. Auf dem Foto von Volker Döring sehen wir einen Jungen, der vor einem Waschbecken steht. Als Handtuchmöglichkeit hängt daneben eine Rolle Klopapier. Ich denke, dass das kein Klo, sondern eher ein Klassen- oder anderer Aufenthaltsraum war. Denn die Toiletten in Schulen waren unbeschreiblich verkommen und noch weniger fotogen, als alles andere, mit dem wir so lebten. Sehr erheitert hat mich das kleine Plakat über dem Waschbecken: „Frieden ist schön“. Heute komisch und irgendwie unbeholfen. Damals normal. Wir lebten mit der Dauerbeschwörung des Friedens zu jeder Zeit und an jedem Ort. Und wenn es über einem Waschbecken war. Man kann sich vorstellen, wie es an Häuserwänden und -mauern aussah. So viel Frieden – als Aufforderung – war nie wieder. Und wir Kinder lernten täglich: Die DDR ist der Hort des Friedens. Natürlich immer bedroht von den „Bonner Ultras“, den Kriegstreibern, vorzugsweise aus dem abgeteilten Feindesstaat BRD. Unsere Nationale Volksarmee beschützte uns vor ihnen. Darauf war Verlass. Und als wir 1961 eine Mauer bauten, um vor „denen“ beschützt zu sein und unseren – selbstverständlich friedlichen – Sozialismus aufbauen zu können, fanden wir Kinder das vollkommen in Ordnung. Wir waren die „Junge Garde“ des Staates und nannten uns „Pioniere“. Und wenn die Jungs später zur Armee eingezogen wurden, standen sie selbstverständlich auf Friedenswacht. Die Fünfziger- und die Sechziger-Jahre waren für uns eine Zeit der Hoffnung. Nicht nur auf den Frieden. Denn den hatten wir ja schon. Er musste nur täglich „beschützt“ werden. Unsere Hoffnung, an die wir glaubten, war der Kommunismus. Wir hatten vage Vorstellungen. Es sollte ein Paradies werden. Ich stellte mir vor, dass man in einen Laden geht und sich nimmt, was man so haben möchte. Später hieß es dann, etwas beschwichtigend, was man braucht. Denn Geld sollte es nicht mehr geben. Alle Menschen wären glücklich. Und in unseren Darstellungen beschäftigten sie sich entweder mit unseren Fahnensymbolen „Hammer, Zirkel, Ährenkranz“ oder sie tanzten glücklich im Sonnenschein. Ich stellte sie mir als lichtvolle Gestalten vor, Fähnchen schwenkend, wie am 1. Mai. Alle würden eine schöne Wohnung mit Heizung und warmem Wasser haben und vielleicht – irgendwann – ein Auto. Und im Sommer fährt die ganze Familie ans Meer. Viel mehr Phantasie hatte ich nicht. Eine Vorstellung vom vollkommenen Glück zu haben, fällt mir noch heute schwer. Auf jeden Fall hätte ich richtige Handtücher neben unseren Schul-Waschbecken gewollt. Das Glück ohne Ende gab’s am Ende dann nicht. Wie bei allen sozialistischen Experimenten.

Nachtrag: Das Foto von Volker Döring ist von 1986 (!!) – Bildunterschrift: 10. Oberschule „Hermann Matern“ Berlin-Prenzlauer Berg. Tja, da hat sich wohl bis zum Ende der DDR nicht sehr viel geändert.

Quelle: „Olle DDR – Eine Welt von gestern“ – Christoph Dieckmann (Autor), Friedrich Schorlemmer (Nachwort), Volker Döring (Fotograf), Joachim Donath (Fotograf), Rolf Zöllner (Fotograf) – mit freundlicher Genehmigung des Fotografen Volker Döring. Danke!

Ich bin ein Buddha.

Ich sitze. Und wo ich sitze, sitze ich. Ich steh nicht so schnell wieder auf. Der sitzende Zustand ist der meine. Sitzen und nachdenken. Sitzen und schreiben. Sitzen und sich unterhalten. Sitzen und lesen. Sitzen und essen.

Im Sitzen kann man fast alles machen. Hab ich zu viel getrunken, schlafe ich auch im Sitzen, mit dem Kopf auf der Tastatur. (Ist schon lange nicht mehr vorgekommen, denn ich trinke ja (fast) keinen Alkohol (mehr)). Als ich in die 1. Klasse kam, hatte ich sofort zwei Lieblingsfächer, die das noch lange bleiben sollten. Sport und Zeichnen, wie Kunsterziehung damals hieß.

Sport also: Ich habe unter dem Beifall der Mitschüler 50 Liegestütze gemacht, wenn es sein musste, auch noch mit jemandem auf dem Rücken. Ich kletterte wie ein kleiner Affe kratzige Seile nach oben und ich rannte – meinen Mitschülern davon – bis ich in eine Spezial-Sportklasse delegiert wurde. Damals empfand ich große Befriedigung bei anstrengendem „Kreistraining“ an jedem Nachmittag und die Wochenenden gehörten diversen Wettkämpfen. Ich schaffte es unter die ersten Zehn (Mädchen) im Ranking, das damals noch nicht so hieß, der 12jährigen 60-Meter-Sprinterinnen und stand damit sogar im damaligen „Sport-Echo“ der DDR.

Unglücklich verliebt war ich auch. In Peter. Der das nicht einmal registrierte, in jedem Diktat eine Fünf schrieb, aber der Allerschnellste war, schneller als ich. Wir haben nie ein Wort miteinander gesprochen, obwohl wir in die gleiche Klasse gingen. Leider wuchs ich nicht mehr weiter, bei 1.60 war Schluss, so dass irgendwann langbeinige Gazellen mühelos an mir vorüberzogen.

Ich sattelte auf 800 Meter um, später auf 3000. Jeden Abend nach dem Training schlich ich müde nach Hause und ging gleich ins Bett. Gottseidank machte ich die Schule irgendwie mit links. Trotzdem fragte meine Mutter eines Tages, ob das jetzt immer so weiter gehen wird. Ich dachte schon lange: Da gibt es doch noch was Anderes? Zum Beispiel – diese interessanten Jungen. Sie waren nicht unter den Sportlern, die richtig interessanten und irgendwie bösen Buben waren woanders. Im Park oder auf Kinderspielplätzen an der Tischtennisplatte oder auf den zentralen Plätzen der Stadt. – Kurzum, ich wollte nicht mehr so hart trainieren, gab noch ein kurzes Gastspiel in einem Ruderclub, um meine Sportlaufbahn dann mit 14 Jahren zu beenden.

Seitdem meide ich Sport in allen Varianten. Ich weiß nicht, wie man Sport mögen kann. Es ist so anstrengend! Ist der Mensch nicht sein Leben lang damit beschäftigt, sich das Leben leichter zu machen? All diese Erfindungen – Heizung, Waschmaschine, Auto, auch Fahrrad – machen das Leben leichter. Warum soll ich in ein Fitnesscenter gehen und mich quälen? Diese Gedanken quälen mich gerade. Denn noch – bin ich ein Buddha.  Denken ist niemals anstrengend.

Mauervorsprünge oder was ich einmal werden wollte.

Schauspielerin werden. Das wollte ich. Als ich acht Jahre alt war. Und Mitglied einer Laienspielgruppe. Mit der ich „Kreismeister“ wurde. Genau genommen wurde unsere Laienspielgruppe Kreismeister im Kreis Senftenberg beim Wettbewerb der Laienspielgruppen. Senftenberg war die nahe Kreisstadt und Cottbus die etwas entferntere Bezirksstadt.

Beide liegen heute im Land Brandenburg – in der Niederlausitz. Wir spielten ein Vögel-Stück. Ich war die Frau Spatz und schimpfte sehr viel mit meinem Spatzen-Mann. Mehr weiß ich nicht mehr, nur, dass wir Spatzenkostüme hatten und Kulissen, die wir selbst aus Pappe bauten.

Es kam die Bezirksmeisterschaft, bei der wir mit unserem Spatzenvögel-Stück weit hinten landeten. Ich war außer mir. Und erzählte – wieder zu Hause in Lauchhammer – meiner Mutter empört von den Machenschaften der Jury, die uns nicht zum Meister gekürt hatte. Meine Mutter meinte, dass vielleicht doch die Anderen…. irgendwie besser…gewesen sein könnten. „Aber die haben nicht so einen Mauervorsprung wie wir!“ entgegnete ich. Vorüber meine Eltern noch jahrelang lachten. Dieser Papp-Mauervorsprung, den wir tagelang bemalt und zusammengebaut hatten, war unser ganzer Stolz.

Nach der Cottbuser Niederlage probten wir kein neues Stück, ich vermute, die Laienspielgruppe ging wegen Mangels an Erfolg ein. Ich auch – in meinen schauspielerischen Bestrebungen. Ich bekam ein Gefühl dafür, wie sehr man sich blamieren kann. Dies frisch erblühte Schamgefühl verengte mir den Mund – so dass ich kaum noch ein Gedicht vor der Klasse deklamieren konnte. Schauspielkarriere ad acta gelegt. Ich wollte Kriminalist werden.

Die Lehrer fragten im Jahresabstand nach unseren Berufswünschen. Sie wurden notiert. Warum auch immer. Und mussten laut geäußert werden. Ich sagte ab sofort: Ich will Kriminalist werden. Wir wurden als Mädchen damals noch Lehrer, Koch oder – Verkäuferin. Diese durfte weiblich sein, weil es kaum Männer gab, die den Verkäufer-Berufswunsch hegten. Einige Jahre sagte ich also stets: Ich möchte Kriminalist werden. Worauf ein Großteil der Klasse – von Jahr zu Jahr mehr – laut lachte. So dass ich mich – nachdem ich meinen Chemielehrer verehrte – auf „Ich möchte Chemiker“ werden verlegte.

Der Chemielehrer war streng. Besonders, wenn ich lackierte Fingernägel hatte, die ich der Klasse zeigen musste, um deren gemeinschaftliche Missbilligung zu empfangen. „Was sagt denn Deine Mutter dazu?“ – fragte der Chemielehrer. „Meine Mutter meint, davon bekommt man keinen schlechteren Charakter!“ – antwortete ich frei phantasierend. Ich dachte, das könnte sie gesagt haben, trug sie doch stets lackierte Fingernägel. Worauf er den Kopf wiegte und meinte: „Ja, da könnte Deine Mutter recht haben.“ Er ließ mich ab sofort in Ruhe. Und ich behielt auch meine Eins in Chemie. In der neunten Klasse wechselte ich an die Erweiterte Oberschule (Gymnasium). Der neue Klassenlehrer war der neue Chemielehrer. Ein netter Kerl, aber Chemie hat er mir gründlich verleidet.

Was also werden? Ich wusste es nicht mehr. Irgendwas mit – Schreiben? Ich unterließ es standhaft, Berufswünsche laut zu äußern. Und weil das so blieb, studierte ich nach dem Abitur – aus Verzweiflung und Ratlosigkeit – Philosophie. Hinter diesen Abschnitt meines Lebens setze ich einen winzig kleinen – Mauervorsprung.

Mein Aufstieg auf den Kalvarienberg Graz oder warum ich den Katholizismus liebe

Ganz oben hängt er. Ganz in Gold. Hängt am Kreuz. Vorher trug er das Kreuz. Es war seine Passion. Sein Leiden. Keine Leidenschaft. Oder doch? Ich steige mit meiner Freundin Frieda auf den Kalvarienberg in Graz. Gehe mit ihr den steinigen Passionsweg. Ich leide mehr an geschwollenen Füßen, denn an den Leiden des Herrn. Fotografiere all die Skulpturen, all die Kunstwerke, die der Glauben über die Jahrhunderte hervorgebracht hat. All diese katholische Herrlichkeit, die Österreich mir jedes Jahr zu Füßen legt. Diese Pracht und diese bunte Sinnlichkeit faszinieren mich immer aufs Neue.

Ich denke an Dali, der Stunden vor seinem Tod noch zum Katholizismus übertrat und ich weiß, warum. Man weiß ja nie… Selbst Darwin schrieb: „… dass das Universum kein Resultat des Zufalls ist.“ Und dann weiter: „Dann aber steigt in mir immer der furchtbare Zweifel auf, ob die Überzeugungen des menschlichen Geistes, der aus dem Geist niedriger Tiere entwickelt worden ist, irgendeinen Wert hätten oder überhaupt vertrauenswürdig wären. Würde jemand den Überzeugungen eines Affengeistes trauen, wenn in solch einem Geist Überzeugungen wären?“

Ja, an allem ist zu zweifeln. Auch das. Auf beiden Seiten. Nicht mehr zweifeln muss ich an meiner Leidenschaft für Jesus. Als Kind wurde ich mit Jesusbildern und -erzählungen gefüttert. Es gab da eine Konkurrenz zwischen meiner katholischen Oma und meinem evangelischen Onkel Karl. Immer, wenn ich mit meiner Oma Onkel Karl besuchen musste, zog er mich sofort in sein Arbeitszimmer, um mir von IHM zu erzählen. Und nicht nur das! Er zeigte ihn mir. In schrecklichen schwarz-weißen Bildern. Ich hab mich nie wohl gefühlt – in protestantischen Kirchen. Sie erregten ein Grauen in mir. Denn sie waren düster, karg und vor allem streng. Besonders gern zeigte mir Onkel Karl Johannes den Täufer, wie er in seinem Blute – nur noch als Kopf – in einer Schüssel schwamm. Und er schaute mich irgendwie triumphierend an und ich dachte: Warum? Warum, Onkel Karl, zeigst Du mir das?

Er hatte dann meist ein Einsehen und tröstete mich mit bunten Bildchen aus der evangelischen Christenlehre. Ja, diesen Kinderjesus war ich bereit zu lieben. Er lief übers Wasser, hatte goldene Haare und einen großartigen Heiligenschein. Er strich den Menschen über ihre gebeugten Häupter, machte sie gesund und fütterte sie mit seinen unendlichen Vorräten. Und versprach ihnen eine Welt in Frieden und Glück. Dann, wenn er wiederkomme. Dass er zwischenzeitlich ans Kreuz geschlagen ward, auferstanden und gen Himmel zum Vater gefahren, wusste ich natürlich.

Und so endeten meine Besuche im Erzgebirge immer damit, dass ich mit vollem Kopf und Herzen und mit dem Zug nach Hause fuhr zu meinen Eltern, die eine andere Zukunft für mich vorgesehen hatten. Ich hatte Onkel Karl ja gefragt, bevor ich nach Hause fuhr: Kommt Jesus auch zu mir, dann, wenn er wiederkommt? Ja, er kommt auch zu Dir! – wusste Onkel Karl und schaute mir tief in die Augen. Auch meine Oma bestätigte das. Ich sah meinen hübschen Jesus vor mir, mit langen blonden Haaren und einem weißen Wallegewand. Ich sah ihn, wie er plötzlich in Lauchhammer – in der sozialistischen Braunkohle- und Schwermaschinenbaustadt der Niederlausitz, in der wir damals wohnten – auf unserem Spielplatz im Sandkasten steht und zu mir sagt: Hier bin ich! Dazu Musik! Eine sphärische Musik. Glück pur! Ich vergaß Mutter und Vater, die am Bahnhof standen, um mich aus diesem Traum abzuholen.

Abends erzählte ich meinem Vater, dem atheistischen Professor in spe, von meinem Jesus. Dass er dereinst kommen werde. Zu uns allen. Und dass das doch wunderbar sei. Quatsch, sagte mein Vater, alles Quatsch! Er zog ein Buch aus dem Arbeitszimmerschrank, in dem Menschenaffen waren. Und begann, meine Welt zu zerstören. Lange Zeit konnte ich ihm das nicht verzeihen.

Gott sei Dank – wir werden irgendwann erwachsen und können selbst entscheiden. Vielleicht hätte mein Vater alt genug werden müssen, um vielleicht wie Dali… wer weiß! – Ich laufe den Grazer Kalvarienberg hinauf. Oben steht das Kreuz. ER hängt am Kreuz. Das machen nur die Katholiken. Ihren Jesus derartig üppig zu vergolden. Onkel Karl hätte die Augen niedergeschlagen und irgendwas in seinen Bart gemurmelt – von Verschwendung oder so. Vor dem Goldjesus stehen drei Gestalten: Eine schaut heuchlerisch. Es ist seltsamerweise der Johannes. Eine schaut desinteressiert. Das ist Maria, die Gottesmutter. Eine – die in der Mitte – weint aufrichtig und bitterlich: Maria Magdalena. Die Tochter aus gutem Hause. Keine Brave. Keine, die tat, was man von ihr verlangte. Andere Gedanken haben, kann verrückt sein. Verrückt machen. Sündig. Sündig und besessen. So hieß es, sie sei eine Sünderin. Eine Verrückte. Bis Jesus kam und die Verrückte wieder in die Mitte verrückte. Und so folgte sie ihm bis in den Tod. Und wird die erste sein, die ihn sieht an diesem Sonntagmorgen der Auferstehung. Noch weint sie. Sie weint die einzig wahren Tränen in dieser Goldjesus-Szenerie. Und weiß noch nicht, dass alles gut wird. Das hilft sogar mir, den Glauben nicht zu verlieren. Danke Graz, danke Frieda, danke Kalvarienberg. Das ist der Zauber des Katholizismus. Er ist sinnlich und deshalb liebe ich ihn. (Ja, Frieda, ich kenne auch die Schattenseiten)

Foto: Grazer Kalvarienberg – Quelle Wikipedia wolf32at – eigenes Werk.