Mein Leben mit der Telekom – oder – Telekom-Anja zwar nicht, aber „Telekom-Markus hilft“

Mein neues Jugendstilhaus in Magdeburg. Es hat einen Glasfaserkabelanschluss der Deutschen Telekom. Mit vorinstalliertem Modem in jeder Wohnung. Ich sah dieses Modem. Es liegt groß und gut sichtbar neben der Eingangstür rechts. Dazu das legendäre Glasfaserkabel in eigens dazu eingebauten „Hüllen“, die wie Überputzleitungen der neuen Zeit aussehen – aber viereckig. Aber: Nach Bestellung der „vollen Packung“, Festnetz (müssen Sie leider nehmen), DSL und ein Riesenpaket Gigabyte wird mir nach zwei Wochen mitgeteilt: Leider können wir Ihnen kein Internet bereitstellen. „Unser Zeitfenster“ ist der 3. Oktober! (Sic! ist das der Nationalfeiertag, oder wie heißt das heute? Vielleicht nur noch „Der Feiertag“?). Nun ja. Ich habe kein Internet. Fuhr flugs noch einmal nach Magdeburg in den dortigen Telekom-Shop. Es empfing mich ein – ich sage das jetzt mal so, obwohl ich das Wort nicht mag – Vollhonk. Aber mit Schuhen in den Farben des Unternehmens. Pinke Turnschuhe. Nein, wir können Ihnen kein DSL bereitstellen. – Wann können Sie denn? – Das Zeitfenster ist Oktober. Aber Genaues weiß man nicht! – Dann vielleicht ein Festnetzanschluss. – Nein, auch ein Festnetzanschluss ist nicht möglich. – Also – nichts. – Ja, so ist es. – Ist ja wie in der DDR! – Er sagte nicht: Sie sind in der DDR! Dafür fehlte ihm Bildung und Humor. Ich weiß schon, warum ich die Deutsche Telekom einfach unterirdisch finde. Also kaufte ich mir, um arbeiten zu können, nun einen Giga Cube bei Vodafone. Wer das noch nicht kennt: Man kauft ein Gerät, das aussieht, wie aus der Zukunft. Einen Cube. Weiß und geheimnisvoll. Und steckt dieses Ding per Strippe in die Steckdose. Dann haste Internet. Und zwar 200 GB im Monat. Und zwar überall, wo eine Steckdose ist. Ich könnte fast wie eine Grüne jubeln. Alles Gute kommt aus der Steckdose. Aber da ist eine Chip-Karte drin. Es funktioniert also wie ein Handy. Die erste Schreckensrechnung zum Wundergerät traf heute auf meinem Konto ein. – Das nur eines der kleinen Nebenprobleme 🙂 Aber immerhin ermöglichen die mir Internet, damit ich arbeiten kann. Magdeburg ist ja kein Dorf im Hinterland, sondern eine Landeshauptstadt. Die Wohnung hat einen Glasfaseranschluss, aber ich kann dort und damit nicht arbeiten. Nur mit dem Vodafon-Cube. Danke Telekom! Für die Glasfaserbesatzung und das bewährte Nicht-Gelingen von großartigen Vorhaben.

Diesen Text pinnte ich der Telekom auf die Facebook-Seite. Eine Freundin riet mir, auch etwas bei der Facebook-Seite „Telekom hilft“ zu hinterlassen. Ich hinterließ den gleichen Text. Beide beantwortet von Anja von der Telekom, die „helfen“ wollte und mit mir telefonierte. „Elisabeth, wir klären das. Ich bin Anja, ich bin für Dich da!“ Super. Super-Anja. Das Ergebnis unseres Telefonats war, dass ich ca. 48 Stunden später eine Mail erhielt, die mir die Bestellung eines höheren Tarifes für mein Handy, über das wir gar nicht gesprochen hatten, bestätigte. Ich wühlte mich durchs Telekom-Telefon-Menue, um zu fragen, was das für eine Bestellung sei, die ich nicht ausgelöst habe, keiner wusste es. – Ich stornierte die Bestellung und schrieb Anja, dass das ja nun irgendwie „nichts“ war, oder eben fatal, was bei ihrer Hilfe herausgekommen wäre. Eine „Geisterbestellung“. Anja meldete sich nie mehr bei mir, dafür Markus von „Telekom hilft“. Wir telefonierten lange und ausgiebig am Abend, denn Markus ist immer abends da, wie er mir sagte, und er wird fortan mein „Begleiter“ sein, wenn ich Telekom-Probleme habe. Zunächst kündigte er mir an, er versprach es geradezu verschwörerisch, dass ich am 22. August in meinem Glasfaserkabelhaus nun doch einen Internetanschluss bekomme. Wie von allein wird er an diesem Tag aufgeschaltet, kein Techniker wird erscheinen, es passiert, versprach mir Markus. Spätestens bis 21.00 Uhr. Nun harre ich der Dinge und hoffe, dass die Markus-Glaskugel das Richtige prophezeite. Ich halte hier auf dem Laufenden 🙂

Wie die Zeit vergeht – und schon bin ich die Großmutter einer Zwanzigjährigen

Meine Anna. Sie wird heute 20. Ich überlege gerade, was bei mir so on top war – als ich zwanzig wurde. Aber mir fällt nur ein, das ich da ihren Vater – Robert – schon zwei Jahre „hatte“. Und er nervte mich enorm – eigentlich war ich auch noch Kind, aber dennoch auch Philosophiestudentin. Vergessen. Heute sind Robert und ich beste Freunde. Er schenkte mir Anna. Gemeinsam mit Saskia, der Mutter von Anna. Anna, meine einzige Mädchen-Enkelin. Mein ein und alles. Ich habe sie von der ersten Minute an so sehr geliebt. Und ihr versprochen, dass ich immer für sie da sein werde. Das ist eines der wenigen Versprechen in meinem Leben, das ich uneingeschränkt eingehalten habe, auch wenn Anna nervte, ningelte, dumm und pubertär war. Aber immer gern, wenn sie lieb und süß und wunderhübsch herumhüpfte und sich des Lebens freute. Wir haben so viel miteinander erlebt, dass ich es hier nicht aufzählen kann. Sie war wie meine Tochter, die ich nicht hatte. Und das war ein Geschenk Gottes, für das ich immer dankbar sein werde. Meine schöne Anna. Meine gern wegen jeder Kleinigkeit weinende Anna. Meine zu tröstende Anna. Meine dankbare und undankbare Anna. Mein Kindeskind. Saskia ist eine großartige Mutter gewesen. Sie war mir gegenüber immer großzügig. Niemals war sie eifersüchtig auf unsere Großmutter-Enkelin-Beziehung, sondern immer hocherfreut, dass es so etwas Einmaliges gab und gibt. Danke Saskia, Danke Anna, Danke Robert, dass es Euch in meinem Leben gibt. Anna maulte in letzter Zeit ein bisschen herum, weil ich nach Magdeburg umziehe. „Du wirst dort vereinsamen, Oma!“. Nein, werde ich nicht, weil ich ein virtueller Mensch bin. Sonst würde ich das hier jetzt nicht schreiben. Herzlichen Glückwünsch uns allen in dieser Familie zu diesem Kind. Zu dieser Erwachsenen. Zu dieser Zwanzigjährigen jungen Frau. Annamaria Romanski.

Adieu, Berlin!

Liebe Gemeinde, ich werde Berlin verlassen. Es war mir immer eine fremde Stadt. Außer, als ich ankam, damals Ende der Achtziger. Da war das Westberlin, in dem ich glücklich mit Peter von Café zu Café taumelte, eine Insel der Seligen. Aber es sollte nicht lang dauern, dann kam die „Wende“. Die Stadt wurde belagert. Von Ossis, die kannte ich ja, aber auch von Spekulanten, die kannte ich damals nicht. In den Neunzigern war alles möglich. Ich wusste das nur nicht. Hätte ich es gewusst, hätte ich Wohnungen und Häuser gekauft, wofür ich damals natürlich das Kapital nicht besaß. Und auch nicht die kapitalistische Gesinnung oder überhaupt das Gespür fürs Geschäft. Schade. So nenne ich das, was ich jetzt besitze, da meine Besitztümer zwar größer sind, aber nicht so groß, um im Immobilienhaifischbecken von Berlin mit zu schwimmen. Zu spät. Alles falsch gemacht. Ich wohne in einer überteuerten Altbauwohnung in Charlottenburg. Dem mach ich jetzt ein Ende. Ich zieh um. In die wunderschöne Stadt Magdeburg, in der man für das gleiche Geld Paläste mieten kann. Was ich natürlich nicht tue. Denn ich will nicht mein ganzes Geld für Mieten bezahlen. Aber die neue Wohnung ist wunderschön. Für den Preis würde ich hier in Berlin ein „Loch“ mieten dürfen. Was werde ich an Berlin vermissen? Nichts. Nur meine Familie. Und das war eine wirklich harte Entscheidung. Meine drei Söhne und die Enkel und die Schwiegertöchter wohnen ab sofort anderthalb Stunden entfernt. Wir haben social media, wir haben Handys, wir haben uns – trotzdem. Die Kinder sind ein bisschen sauer, aber sie werden sich daran gewöhnen. ich auch. So hoffe ich.

P.S. Ich werde natürlich weiter in Berlin arbeiten. Bei meinem Radiosender. Ich habe jetzt eine Bahncard.

Als der Regen niederging – meine Begegnungen mit Holger Biege

Holger Biege ist gestorben. Das sagt sich so leicht, es sei „besser für ihn gewesen. Das ist doch kein Leben!“ Gelähmt durch einen Schlaganfall, nicht mehr das machen könnend, was ihn auszeichnete: Musik. Ob das, was ihm noch blieb, ein Leben war, wusste nur er allein. Er hat dieses Leben fünf Jahre geführt. Ich habe für ihn gespendet, vor zwei, drei Jahren. Es ging um ein Auto, das extra für ihn umgebaut wurde, damit er auch zu Veranstaltungen fahren kann. Eine sehr schöne Aktion war das, daran habe ich mich gern und stillschweigend beteiligt. Ich war es ihm schuldig. Denn er hat mir Glücksgefühle geschenkt. Mit seinen Liedern. Das erste – nicht Glücksgefühl, sondern heute würde man es „WOW“-Gefühl nennen – löste er 1977 bei mir aus. Mit seinem ersten Song, der im DDR-Radio gespielt wurde. Ich weiß es noch genau: Ich stand in unserer Küche in Leipzig, damals noch in der Tschaikowskistraße im Waldstraßenviertel, und hörte „Als der Regen niederging“. Ich hörte das und war wie erstarrt. Und ich sagte zu Peter: „Wer war das? Der hat deutsch gesungen und es klingt trotzdem wie ein Amerikaner.“ Zumindest so, wie ich mir einen deutsch singenden Amerikaner damals vorstellen konnte. Der Gesang und das Arrangement: Es war anders. Ich ließ das Radio an und wartete tage-, ja sogar wochenlang immer auf diesen Biege-Song. Dass das von einem Holger Biege war, brachte ich schnell in Erfahrung. Peter war ein großzügiger Mensch, wenn es um die Bewertungen der Leistungen anderer Rockmusiker ging. Er war verschwenderisch in seinem Lob und ging locker mit Bewunderung um. Aber nicht, wenn ich einen anderen besser fand, als ihn. Das bitte nicht! Kurz darauf lernte ich den Ausnahmemusiker der DDR-Rockmusik kennen und ab diesem Zeitpunkt mochte ich ihn noch mehr. Holger Biege war nicht nur ein großartiger Musiker, er war auch intelligent und – gebildet. Unter DDR-Rockern nicht unbedingt die hervorstechendste Kombination. Holger und ich lernten uns bei Peters damaligem Band-Chef, Wolf-Rüdiger Raschke, kennen. Dieser gab im Haus seiner Eltern, in der Kellerbar, eine Art Party, zu der auch Berliner Musiker und Musikjournalisten geladen waren. Einer von diesen brachte Holger Biege mit, der damals der Newcomer-Star in der Szene war. Er war keine rasante Erscheinung und tat auch – wie es schien – nichts dafür. So ein bisschen wirr um den Kopf, nachlässig gekleidet. Aber eine scharfe Zunge. Im Laufe des Abends kam er zu mir: „Du bist also die Frau von Cäsar! Und – macht es Spaß mit ihm?“ – Eine seltsame Frage. Ich wusste vor Schreck nicht, was ich antworten sollte. Irgendwas wahrscheinlich. Wir unterhielten uns an diesem Abend noch ausführlich über ihn und seine Musik. Ich erzählte ihm, dass ich seine Schallplatte oft hoch- und runterhöre, er meinte, dass er vieles ganz anders machen würde. Wenn er könnte, wie er wolle. Im Kopf ist mir nur geblieben, dass er den Namen Karlheinz Stockhausen erwähnte, den ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte, und dass er mit glühenden Augen rief: „Wer in meiner Band spielen will, muss machen, was ICH will. Ansonsten geht das nicht für mich.“ Er sprach nicht sächsisch, wie die meisten Musiker in der DDR. Er sprach hochdeutsch, denn er stammte aus Greifswald. Heute Mecklenburg-Vorpommern. Ich war fasziniert von diesem großen, irgendwie unbeholfenen, aber messerscharf denkenden Mann. Der dazu noch kreativ war. Leider trank er etwas zu viel. Das kannte ich ja schon von meinem Mann Peter. – Im darauffolgenden Jahr habe ich ihn in meiner Eigenschaft als „Kulturpolitische Mitarbeiterin“ in einem Kulturhaus zu einer Veranstaltung eingeladen. Da holten mich die Türsteher, weil da ein „Mann draußen steht, der behauptet, hier spielen zu wollen“. Ich ging zum Einlass und da stand Holger. Im Schipullover mit einem Dederonbeutel in der Hand. Er war mit dem Zug gekommen. Wie ein Star sah er nicht aus. Ich sagte zu den Männern am Einlass: „Das ist Holger Biege!“. Und sie schauten mich ungläubig an. Ich freute mich, ihn mal wieder zu sehen und ging mit ihm in die Künstlergarderobe hinter der Bühne. Er sagte, er müsse erst einmal etwas trinken. Und schenkte sich ein großes Glas Schnaps ein. Und dann noch eins. Sonst könne er nicht auftreten. Er war damals 26. Da verzieh der Körper das noch. Später setzte er sich ans Klavier und legte einen grandiosen Auftritt hin. Ganz allein. Holger Biege und das Klavier. Und sein Gesang. Wunderbar. – Das letzte Mal sah ich ihn auf einem Stadtteilfest im Prenzlauer Berg zu Beginn der Neunziger. Er trat dort auf. Ich war zusammen mit Peter dort. Er freute sich, uns zu sehen, und wir tranken nach seinem Auftritt noch etwas zusammen. Holger erzählte von seiner Zeit im „Westen“ und wie schwer es gewesen sei. Das wussten wir ja schon von vielen anderen und von uns selbst, wie ernüchternd das als ehemals bejubelter Künstler aus der DDR war. Er hatte auch eine neue Schallplatte gemacht, die er uns signiert schenkte. Es war wirklich noch eine Schallplatte. Ich hörte sie mir an und es gefiel mir nicht mehr. Nicht so, wie damals, als der „Holger-Biege-Regen“ auf mich niederging. Nicht mehr wie damals. Aber es war sein Werk, auf das er stolz war. Er hat sich – entgegen seinem Namen – nicht verbiegen lassen. Er hat weiter so komponiert, wie er es wollte, er hat weiter so getrunken, wie er es wollte. Er war ein starker Charakter mit einer sehr dunklen Seite. Wie alle großen Künstler.

Und überall atmet die Großmutter – mein Österreich.

Salzburg also. Fliegen war dieses Mal fast erträglich. Hatte selten wirklich Angst, nur die Gewohnheitsangst gewissermaßen. Viel getrunken, viel geredet, viel gelaufen, viel gegessen. Viel nachgedacht. Sehr ereignisreich. Die österreichische Kultur, vor allem aber auch Ess- und Trinkkultur, wieder sehr genossen. Den wundersamen Friedhof besichtigt. Wahnsinn, diese Österreicher, die mir so nah sind. Überall atmet die Großmutter. Manchmal möchte ich einfach dort bleiben. Auch diese Sprache ist mir nah, alles ist mir nah. Das Katholische. Das Gemütliche, das Morbide und auch das Schwarzhumorige. Das Weinerliche. Wenn ich nur die Großmutter und den Vater, der ja auch vom Ursprung her ein Österreicher war, ein einziges Mal noch sehen oder auch hören könnte, das wäre wunderbar. So bleiben sie für immer in meiner Erinnerung und mit meiner Erinnerung werden sie dann endgültig sterben. Dann gibt es niemanden mehr, nur im Fall meines Vaters vielleicht meine Schwester, der an sie denken wird. Weil sie so früh gestorben sind. Wenn ich es recht bedenke, starb der Vater nur zwölf Jahre nach der Großmutter. Das hab ich noch nie so gesehen, wie wenig Zeit das war. Die Mutter blieb noch lang im Leben. Von 1977 bis 2014, das sind 37 Jahre, die sie ihn überlebt hat. Den, von dem wir immer nur Gutes denken, den wir als jungen Mann in Erinnerung haben. Von ihr bleibt der entsetzliche Eindruck des Endes. Das ist bitter. In letzter Zeit habe ich mir oft die guten Fotos von ihr angesehen. Die schönen, auf denen sie jung und kräftig und bei Sinnen war.

In einer anderen Zeit in einem untergegangenen Land – Als wir Geburtstag feierten – Peter Cäsar Gläser zum 69.

Heute nennen es die jungen Leute „feiern“, wenn sie sich treffen. Anlass egal. Aber – es könnte auch ein Geburtstag sein. Meist am Wochenende. Auch wir feierten damals. Peter und ich feierten oft. Auch in der Woche. Noch mehr, als am Wochenende. „Feiern“ nannten wir das nur, wenn Geburtstag war. Das betraf seinen, meinen und – oh Graus, die Kindergeburtstage. Außerhalb gab es Geburtstagsfeiern von Freunden oder bei Peters Eltern. Seine Mutter Ende Dezember. Der Vater Mitte Januar.

Als ich das erste Mal mit bei den zukünftigen Schwiegereltern war, das war ein Dezember, also Mutter-Geburtstag, brachte er mich als „Überraschung“ mit. Ich war für seine Eltern und die gesamte Verwandtschaft die bisher im Verborgenen gehaltene Geliebte. Die Böse. „Die, die seine Ehe auseinandergebracht hat.“ – Peter betrat also die „Gute Stube“. Er war nach einem Jahr zum ersten Mal wieder da. Wegen seiner Scheidung wollten die Eltern nichts mehr von ihm wissen: „Wir haben keinen Sohn mehr!“ – Aber wenn der verlorene Sohn nach Hause zurückkehrt, wird dann doch gejubelt. Also freuten sich die Eltern, die Großmutter, die Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen und die Gartenfreunde und sie lachten und hoben die Gläser. Dann kam ich. Man hatte mich bisher noch nicht gesehen, denn ich stand hinter Peter. Das Gelächter erstarb. Alle schauten betreten. Keiner sagte etwas. Großes Schweigen. – „Das ist also Deine Freundin!“ rief der Vater und versuchte die Situation zu retten. „Ja, gewissermaßen“ – meinte Peter und sagte nicht, dass wir schon seit einem Vierteljahr verheiratet waren. Und Peters Vater – ganz Bierfahrer, der er war – hielt mir ein Glas mit einem Getränk hin und sagte: „Setzen Sie sich doch!“ – „Die gefällt mir, an der ist wenigsten was dran!“ rief Wanda, die polnische Oma und Mutter des Hausherrn. Alle anderen sagten erst einmal nichts. Irgendwie kamen wir dann doch noch alle ins Gespräch, die Runde war erleichtert und als alle gegangen waren, erfuhren Peters Eltern zu ihrem Entsetzen, dass wir verheiratet sind. Die Mutter begann zu weinen und war gleichzeitig beleidigt, weil sie „es so“ erfahren musste. „Da müssen wir wohl jetzt DU sagen!“ – „Ja, können wir machen, ich heiße Elisabeth.“ – Das war Geburtstag Nr. 1.

Geburtstag Nr. 2 war ein Peter-Geburtstag, der 30. oder 31. Wir wohnten noch nicht in der legendären Lindenthaler Str. in Leipzig-Gohlis, sondern in der Tschaikowskystr. im Waldstraßenviertel. Am Nachmittag dieses 7. Januars waren Peter und ich in der „Kaufhalle“ und entdeckten zu unserem Erstaunen Kästen mit Tonic Wasser. Das war sehr selten. Und noch dazu fanden wir echten Gin. Superselten. Verwundert und begeistert sagte ich: „Was meinst Du? Wir kaufen jetzt ein paar von diesen Gin-Flaschen, dazu einige Kästen Tonic und machen heute mal eine Gin-Tonic-Party. Das gabs noch nie bei uns und einfach ist es auch. Wir müssen uns über weitere Getränke keine Gedanken machen.“ Gesagt, getan. Wir kauften das Set in vielfacher Ausführung. Dazu noch ein paar alkoholfreie Getränke, die ohnehin nur Robert trank, der damals noch Kind war, und sonst… mir fällt niemand ein. Dazu noch ein paar Alibi-Bierflaschen. Was wir zu Essen hatten, weiß ich nicht mehr. Alkohol-Killer dürften das nicht gewesen sein. Denn es passierte natürlich etwas. Die reichlichen Gäste, mir fallen nur noch unsere Freunde von nebenan, Max und Mable, ein, ansonsten noch Musiker mit ihren Frauen, ein paar Cäsar-Fans, vielleicht Heike, meine Freundin. Aber genau weiß ich es nicht mehr. Auf jeden Fall tranken alle begeistert Gin-Tonic. Einen nach dem anderen. Wir saßen in dem einzigen großen Zimmer, das wir damals hatten, am Tisch und auf den Sofas, die darum gruppiert waren. Partygespräche. Mir fällt heute partout nicht mehr ein, worüber. Und ich würde mich an diesen Geburtstag nicht mehr erinnern. Aber an das: Es war nicht das Große Fressen. Es war wohl das Große Saufen. Denn – wie auf Kommando – erbrachen sich alle fast gleichzeitig oder steckten sich gegenseitig an. Es war wie eine riesige Kotz-Welle, die durch die Wohnung rollte. Im Bad, auf der Toilette, in der Küche, in die Blumenvasen, Eimer, Töpfe, Blumentöpfe und alle Gefäße, die man ergattern konnte. Ich kann mich noch erinnern, dass der Alkohol-gestählte Peter, der natürlich nicht von der Welle erfasst wurde, jemandem eine Blumenschale unters Gesicht hielt, weil dieser mitten im Gespräch… schwupps… naja, es war grauenhaft. Nachdem irgendwann alle nach Hause gegangen waren, haben Peter und ich und vielleicht noch Heike, die ja immer unser guter Hausgeist war, uns noch die halbe Nacht fast zu Tode gewischt. Gin haben wir zu Geburtstagen nie mehr gekauft

Im Abendkleid die „Hausordnung“ machen und andere unordentliche Sachen

Dieses Foto hat unsere unermüdliche „Haus“fotografin und Freundin Edith Tar geschossen. Sie hielt immer drauf, wenn was Tolles passierte. Aber auch, wenn was Schlimmes passierte. Zum Beispiel, wenn ich nach zu viel Alkohol aus dem Auto heraus kotzen musste. Gnadenlos diese Dokumentationswut. So auch hier. Damals war ich wütend, weil sie immer alles festhielt. Heute muss ich lachen und freue mich, dieses verrückte Bild zu haben. – Es war vielleicht ein Samstagnachmittag. Wieso Moritz, der da mir gegenübersteht, eine Art Nachthemd anhat, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es nach dem Mittagsschlaf, den meine Kinder eigentlich niemals abhielten. Also nicht. Vielleicht wollten die Kinder in die Badewanne. Gleich hinter uns sieht man ein bisschen vom Bad. Und nein, das ist nicht in irgendeinem Theater mit seinem „Hinterland“, wie manche schon dachten, das ist unser Flur in unserer Leipziger Wohnung. Düster und in diesem Moment unter Wasser gesetzt. Die Kinder – das waren in diesem Fall Ben und Moritz – hatten die Wanne überlaufen lassen und den gesamten Flur geflutet. Deshalb auch die nassen Teppiche, die schon aus dem Schussfeld genommen sind. Ich durfte dann mit Schippe und Wassereimer erst einmal die Wassermassen so eindämmen, dass ich später mit Handtüchern und Wischlappen den Rest beseitigen konnte. Ich – bekleidet mit einem Kleid, dass ich aus einem Nachthemd hergestellt und schwarz gefärbt hatte – ja, das haben wir gemacht, denn die Nachthemden waren in der DDR schöner, als die „richtigen“ Kleider – dazu Netzstrümpfe und Schuhe mit hohen Absätzen. In meinen Stasiakten habe ich gelesen, dass sich Hausbewohner darüber beschwerten, bei den Herren Interviewern, dass ich im „Abendkleid die Hausordnung“ machen würde. Hier also auch. Im Abendnachthemdkleid den überschwemmten Wohnungskorridor bereinigt. Ich schimpfe mit Moritz. Man sieht es. Vordem habe ich in der Küche gesessen und Alice Miller gelesen. War es „Das Drama des begabten Kindes“ oder war ich schon eins weiter und es war „Am Anfang war Erziehung“. Ich war damals – wie viele aus unseren „Kreisen“ – von dieser Schweizer Psychoanalytikerin, die sich für die Rechte der Kinder einsetzte, begeistert. Später, sehr viel später, las ich einen Artikel über ihren Sohn, der sich von seiner Mutter losgesagt hatte, weil sie eine schlechte Mutter gewesen sei. Das hat mich einerseits entsetzt, andererseits auch beruhigt. Denn, dass ich eine schlechte Mutter bin, hab‘ ich ja auch sehr oft gedacht. Heute eher nicht mehr. Dieses Ungenügen an sich selbst hat wohl jede Mutter. Und da meine Söhne heute ausnahmslos zu mir stehen und sich nicht beschweren, wie es in ihren Kinderzeiten bei uns zuging, geht’s mir sogar besser, als Alice Miller. Also liebe ich dieses Foto und kann, wie alle anderen auch, darüber lachen.

Auftragsarbeit: Herr Kaiser von der Stasi oder „Guck nicht so romantisch, Hasi!“

Ja, das ist eine Überschrift, da liest man gleich weiter, oder? Wer ist Herr Kaiser von der Stasi? – Ich weiß das bis heute nicht. Ich habe ihn nie gesehen. Im Notizbuch von Peter Cäsar Gläser – das ich in den Siebzigern und auch noch Achtzigern regelmäßig durchforstete, stand der Name Peter Kaiser, ohne Adresse, aber mit Telefonnummer. Da ich normalerweise nach Frauennamen schaute, ob ein neuer dazu gekommen ist oder eben nicht, fiel mir dieser Name irgendwann auch auf. Ich fragte Peter, wer denn Peter Kaiser bitteschön sei. „Ach, nicht so wichtig, mit dem bin ich in die Schule gegangen. Er ist ein Karussell-Fan.“ Mmh. Der Karussell-Fan rief ab und an bei uns an. Peter benahm sich anders als sonst, wenn Karussell-Fans anriefen. Ich dachte, dass in Wahrheit eine Frau dahintersteckt und es Herrn Kaiser gar nicht gibt. Doch es gab ihn, nur hieß er nicht Peter Kaiser. Dennoch geht er in meine Geschichte ein, als Herr Kaiser von der Stasi. Der Führungsoffizier meines Mannes.

All das wusste ich (noch) nicht, auch nicht, dass uns Herr Kaiser von der Stasi in die damalige Tschechoslowakei „schickte“. Wir sollten Christian Kunert treffen, den früheren Keyboarder und Sänger der bereits seit 1975 verbotenen Band „Renft“. Christian Kunert, genannt Kuno, lebte schon länger in Westberlin. Er war – gemeinsam mit Gerulf Pannach – 1976 im Zuge der Biermann-Ausbürgerung verhaftet und nach einem dreiviertel Jahr gleich aus dem Knast in den Westen entlassen worden. Irgendwie muss das Herrn Kaiser von der Stasi und seinen Auftraggebern in Berlin nicht gefallen haben. Sie glaubten, man könne Kuno für den Sozialismus zurückgewinnen. Der Überbringer dieser frohen Botschaft sollte Peter sein. Peter wusste, dass ich Kuno sehr mochte und schlug mir vor, dass wir uns mit ihm in Karlsbad treffen könnten. „Das wäre doch schön. Wir nehmen Robert mit und die Mutter von Kuno und fahren mit dem „Wolga“ in einen kleinen Urlaub in die Tschechei! Juchhu.“ – In Karlsbad mussten wir uns treffen, weil Kuno nicht in die DDR einreisen durfte, wie fast alle, die die DDR gen Westen verlassen hatten.

Ich freute mich sehr, wir telefonierten nach Westberlin und verabredeten uns mit Kuno. (Es war nicht immer so, dass man Telefongespräche führen konnte. Man musste diese beim Fernamt anmelden und wurde dann nach Stunden durchgestellt oder eben nicht.) Es war Mitte der Achtziger, es war Sommer und wir mussten nur eine Grenze überwinden. Die DDR-Grenze in die CSSR. Wir fuhren an einen Grenzübergang im Erzgebirge und wurden gefilzt. Man nahm unser Auto total auseinander, ich musste unsere Koffer auspacken, und die gierigen Zollfrauen wühlten in meinen Schlüpfern herum. Sie fanden 2,50 DM in Forumschecks in meinem Portemonnaie. Forumschecks waren das Spielgeld der DDR für die damaligen „Intershops“, in denen man nur für Devisen einkaufen konnte, also vorzugsweise für DM. Wir, als DDR-Bewohner, mussten aber die DM vorher bei der Staatsbank in diese Forumschecks umtauschen. Die Zollbeamtin meinte: „Das sind Devisen. Die dürfen Sie nicht ausführen!“ – Ich sagte, dass das Forumschecks seien, mit denen man bei den Tschechen nichts anfangen könne. Und provozierte die Dame noch. „Sie können das gern behalten, ich schenke es Ihnen!“ – was sie empört zurückwies. Die 2.50 Forum-DM wurden beschlagnahmt. Außerdem hatte Peter aus Versehen in seiner großen Tasche von den letzten Band-Muggen mit „Cäsars Rockband“ noch einen großen Teil der Gagen. So 1500 Mark in Ost. Auch das mussten wir abgeben. Wir erhielten Quittungen und man stellte uns in Aussicht, das Geld bei der Rückkehr wieder mitnehmen zu dürfen. Dann passierten wir die Grenze. Man muss dazu wissen, dass man damals in der Tschechoslowakei nur 30 Mark am Tag in tschechische Kronen umtauschen durfte. Das war nicht gerade viel, um über die Runden zu kommen. Aber Kuno, der „reiche Westonkel“ kam ja, und er mietete uns ein Häuschen im Wald.

Ein Wald, verwunschen, wie in meiner Kindheit im Erzgebirge bei meinen zahlreichen Verwandten dort. Böhmen. Ein Häuschen, heruntergekommen, wie es schlimmer nicht ging. Man sieht es auf dem Foto. Peter und ich sitzen am Tisch. Über uns dieses unsägliche Bild und überall zerfetzte Tapeten und Spinnweben. Aber egal, es war schön, Kuno zu treffen. Er brachte seine damalige amerikanische Freundin Suzie mit und wir haben natürlich wieder viel zu viel getrunken, man sieht es an der großen Wodkaflasche auf dem Tisch. Kuno hatte einen Berg mit Lebensmitteln, Wein, Obst und Gemüse mitgebracht. Ganz normale Supermarktware, für uns damals ein Festmahl am Morgen und am Abend. Am Tag gingen wir Knödel essen und tschechisches Bier trinken. Peter konnte seine „Mission“ nicht erfüllen, weil er an den zwei Abenden beizeiten so betrunken war, dass er einschlief. Auch Suzie war aus dem Rennen, die Kuno-Mutter und Robert ebenfalls.

Nur Kuno und ich haben fast bis zum Morgen gequatscht, wie in alten Leipziger Zeiten. Er war sehr verändert. Acht Jahre Westen hatten einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Ich habe mich beinahe in ihn verliebt. Und er sagte: „Guck nicht so romantisch, Hasi!“ – Hasi hat Kuno immer gern gesagt, da erkannte ich ihn wieder. Hätte Peter den „Auftrag“ an ihn herangetragen, wäre Kuno sicher vor Lachen umgefallen. Aber es kam nicht dazu, weil Peter das wahrscheinlich doof und aussichtslos fand, außerdem war er nie mit Kuno allein. Es war ja auch noch Kunos Mutter da. Und abends, wie gesagt, König Alkohol verhinderte Schlimmeres. So fuhren wir zufrieden und Peter unverrichteter Dinge nach Hause. Wieder große Kontrollen. Geldrückgabe.

Irgendwann Leipzig, das wir ein paar Jahre später in Richtung Westen verlassen würden. – Dass Peter im Auftrag von Herrn Kaiser von der Stasi mit uns ins kleine Häuschen zum Treffen im Böhmischen Wald gefahren war, hat er mir erst 1991 erzählt. Ich konnte es nicht glauben. In den Stasi-Akten las ich, dass die Operation „Kind“ hieß, warum auch immer. Im Zuge der Operation „Kind“ wurde auch ich „aufgeklärt“. Die Stasi strich Peter kurz darauf als „Mitarbeiter“. Weil er unzuverlässig sei und weil er eine Frau hätte, die ihn eindeutig staatsfeindlich beeinflusse. Habe ich auch in den Akten gelesen. Sie hatten Recht. – Auf meine spätere Frage, warum er mit mir zu diesem Treffen mit so einem unmöglichen Auftrag gefahren sei, antwortete er: „Kuno wollte ja eigentlich nicht in den Westen.“ Das stimmt. Ich denke aber, nach acht Jahren Westen war seine Meinung da eine andere. Das hat Peter wohl auch gemerkt. Im Gegensatz zu ihm ist Kuno nie wieder nach Leipzig zurückgekehrt. Die Operation „Kind“ der Abteilung Auslandsaufklärung der Staatssicherheit der DDR war gescheitert. Vielleicht hätten sie nicht so ein romantisches „Kind“ schicken sollen, wie Peter eines war.

Das Rätsel der Nagellackflasche – Mach Dich nicht so schön, Kind! und – als Peter Cäsar Gläser mich wegen einer Nagelschere verlassen wollte…

Dieses Bild ist von 1982. Da hatte ich noch meine berühmten Zöpfe, hier als sogenannte Rattenschwänze, wie das damals hieß. Dazu ein – nun ich würde sagen – beinahe operettenhaftes Kleid, in Schwarz, das ich aber eben auch in der Küche trug. Komisch, dass auf allen Fotos aus dieser Zeit Bierflaschen herumstehen, wahlweise auch Weinflaschen, fast immer eine Nagellackflasche, wie hier. Ich überlege, ob Nagellackflaschen in der DDR immer so aussahen, vielleicht kann mir jemand aushelfen – mit Nagellackflaschenerinnerungen.

Was mir noch einfällt: Es war die Zeit, als meine Mutter, nachdem mein Vater 1977 bei einem Autounfall tödlich verunglückt war, das erste Mal mit ihrem „neuen“ Mann bei uns erscheinen wollte. Ich sagte ihr zu, dass ich die beiden vom Hauptbahnhof in Leipzig abholen werde. Sie raunte verschwörerisch ins Telefon: Elisabeth, bitte mach Dich nicht so schön! – Gut, mach ich – nicht. – Ich ging also ungeschminkt und lässig gekleidet auf den Bahnhof und harrte der Dinge. Aus dem Zug stieg meine Mutter mit – meinem Vater! Nein, das konnte nicht sein. Er war ja begraben – auf dem Magdeburger Westfriedhof. Dieser Mann, neun Jahre jünger als meine Mutter, sah – nun ja, von Weitem… – aus wie mein Vater! Später habe ich gelesen, dass viele Frauen, vielleicht auch Männer, nach Verlust eines Partners zielstrebig etwas Ähnliches suchen. Ich muss sagen, dass auch ich nicht frei davon war. Als mich die erste große Liebe verließ, ich, dem Selbstmord nahe, lange Zeit brauchte, um überhaupt über eine neue Partie nachzudenken, dann aber doch – Ausschau hielt…. welchen Männern schaute ich nach? Genau. Den Typen, die aussahen, wie der mich schmählich verlassen Habende. Seltsamerweise sah er aus wie Eberhard Esche, der berühmte DDR-Schauspieler. Das erklärt vielleicht meine temporäre Groupie-hafte Begeisterung für Esche, der, wie ich heute höre, nachdem ich beinahe dreißig Jahre in Berlin lebe, ein leichtes Sächsisch sprach. Vielleicht auch das eine heimatliche Anmutung, die ich damals aber (noch) nicht an mir bemerkte.

Zurück zum Bild. Nagellack. Ich habe bis zu meinem 38. Lebensjahr grundsätzlich immer meine Fingernägel abgeknabbert. Ja, bis aufs Blut, bisweilen. Ich hatte es einfach nicht im Griff. Sah ich einen spannenden Film, las ich ein interessantes Buch oder führte ich eine verbale Auseinandersetzung – ich beraubte mich der Fingernägel, ehe ich es versah. Klingt lustig, war es aber nicht. Nichtsdestotrotz, in jungen Jahren will frau schöne Fingernägel. Heute geht sie ins Nail-Studio und lässt sich halt künstliche draufpinnen. Aber damals half nur roter Nagellack auf die Restbestände. Ich tat das. Und schwor mir jeden Tag aufs Neue, diese frustrierende Kauerei sein zu lassen. Der Mann meines damaligen Lebens, Peter Cäsar Gläser, trieb mich beinahe täglich dazu, den Schwur zu brechen. Auf dem Foto sieht man das natürlich nicht. Denn ich blicke nicht stumm auf dem ganzen Küchentisch herum, sondern parliere anscheinend lieb und nett mit den anwesenden Gästen, die man nicht sieht. Aber die waren da. Ganz bestimmt. Wie sie immer da waren. Ein paar Monate später habe ich mir mit einer Nagelschere (Nagel!) die Haare abgeschnitten. Es war Anfang 1983. Es war die Zeit der Punks, die gerade angebrochen war. Die Punks – in Gestalt der Leipziger Band „Wutanfall“ – probten in unserem Keller – und ich wollte auch so ein Punk sein. Oder irgendwie zu denen gehören. Ich war noch nicht konservativ, sondern träumte vom Fortschritt. Und der Fortschritt hieß damals: Weg mit den Hippies, her mit den Punks. Alte Zöpfe ab. Peter sagte: Wenn Du Dir die Haare abschneidest, verlasse ich Dich! – Ok, das will ich wissen! – Ich nahm die Schere und stellte mich vor den Spiegel. Peter verließ das Haus. Und kehrte irgendwann nachts zurück. Die Zöpfe waren ab. Es sah irgendwie cool aus. Natürlich haben wir das 1983 nicht gesagt. Denn „Cool“ gab es noch nicht. Die Zukunft lag noch vor uns.

Foto: Ich – noch mit Rattenschwänzen kurz vor der Umgestaltung.

Diäten – die gefühlt hundertste – Strom-Blackout – Überleben mit Leber und russischem Nationalgetränk

Ich probiere ja alles. Da ich einen sogenannten BMI in unaussprechlicher Relation besitze. Jetzt beispielsweise: Intermittierendes Fasten. Ich esse einen Tag so einigermaßen, was ich will. Am nächsten gar nichts. Nur Wasser. Und am Abend aus Verzweiflung Sekt. Ist der Sekt der Grund, dass ich nach dreiwöchigem Selbstversuch kein Gramm abgenommen habe? Ich habe doch nur die Hälfte dessen gegessen, was ich vordem zu mir nahm! –

Nichts. Ich bin ein perpetuum mobile. Ich werde die letzte Überlebende sein. Auch eine beruhigende Vorstellung, wenn man bedenkt, dass unser Innenminister letztes Jahr zur Vorratshaltung für den totalen Stromausfall aufrief. Er bezog sich auf das Buch von Marc Elsberg „Blackout“, das ich natürlich auch gelesen hatte. Der Innenminister ganz offensichtlich nicht. Wer es nicht kennt, bitte lesen. Es führt danach zum spontanen Kaufreflex von Büchsen und Wasser. Sehr viel Wasser. Lagert alles in meiner Garage. Außer der Tatsache, dass ich wahrscheinlich von fast nichts leben kann und immer noch proper bin, überlege ich also, ehe der Strom-Super-GAU einsetzt, was könnte ich vordem tun, um in luftige Sommerkleider zu passen oder gar in Bikinis.

Ich habe wieder diese kämpferische Idee: Tatar. Kein mongolischer Horden-Krieger, der Rindfleisch unter seinem Sattel mürbe reitet, sondern einfach – Fleisch. Rind. Roh und mager. Durchgedreht. Man formt einen flachen Ballen, darinnen eine Mulde, darauf ein Eigelb. Dazu ein Häufchen gehackte Zwiebeln und Pfeffer und Salz. Dann vermengen. Und essen. (Eine Freundin: Ich bring das ned runter!) Meine Lieblingsfreundin: Ich liebe es, mit Dir Schabefleisch zu essen! Denn so kann man das auch nennen. – Ich hab es gekauft, im Grunewald, im REWE. Dort ist es sehr gemütlich. Die Menschen sind entspannt. Es geht ihnen gut. Das sieht man und hört man. Niemand schubst und drängelt. Alle lächeln lieb. Die Verkäuferinnen sind genauso. – Leider muss ich Wodka in der dahinter gelagerten Dependance kaufen. Ich nehme einen echten russischen – irgendwas mit Super oder Favorit. Und milchgereinigt, was das auch immer ist. Klingt irgendwie vertrauenerweckend, obwohl diese hackenden Russen, sind ja nun an allem Schuld! – Dazu denke ich mir: Probiere ich doch mal eine Tatar-Wodka-Diät. Wie lange ließe es sich durchhalten, nur diese zwei Lebensmittel zu sich zu nehmen? Wobei der Wodka vermutlich nicht als solches durchgeht. Eine Woche? Zwei- Wochen?- Als Variation könnte ich mir rohe Leber vorstellen, die meine Schulfreundin Sieglinde samt ihrer vollzähligen Familie immer genüsslich im Ganzen in den Mund gleiten ließ, auf dass mir ganz anders wurde. Vielleicht kann man die auch klein hacken und mit irgendwas marinieren? So als roher Lebersalat. Dazu auch Wodka. Vielleicht für Woche zwei – als Abwechslung. Wie viel Gewicht könnte ich bei dieser Diät verlieren? Ich finde, das klingt wild. Am Ende bin ich schlank oder – tot :-)) Naja, gemach, ich hab noch sehr viel Wasser in der Garage!