Mama und Papa und die ganz große Liebe – zum Mutter-Tag, der auch immer ein Vater-Tag ist.

Liebe Mama, lieber Papa, schön, dass Ihr so verliebt wart. Deshalb gibt es mich. Es ist Sylvester auf diesem symptomatischen Bild aus den 50ern und ich war schon da. Ihr werdet für mich immer das ewige Liebespaar sein. Immer küssend, immer händchenhaltend. Immer verliebt und seltsamerweise immer eine Einheit. Auch gegen mich. Ich hatte keine Chance gegen Euch. Immer einer Meinung. Niemals im Streit. – Kann das sein? Ich habe es so empfunden und niemals erlebt, dass Ihr Euch gestritten habt. Hier auf diesem Bild küsst Ihr Euch an Sylvester, deshalb diese komischen Hüte. Ihr habt mich so erzogen, dass ich an die ganz große Liebe glauben durfte. Dass ich es musste. So sehr, dass ich diese ganz große Liebe gesucht habe und glaubte, gefunden zu haben. Heute finde ich das komisch. Wart Ihr ein Traumpaar aus einer anderen Welt? Vielleicht musste es deshalb sein, dass Du, Papa, schon mit 46 Jahren durch einen Autounfall aus dem Leben gerissen wurdest. Und dass Du, Mama, am Ende alles vergessen hast. Auch ihn. Auch mich. Ich habe Euch beide nicht vergessen. Weil heute dieser seltsame Muttertag ist, will ich Dich, Papa, ehren. Denn Du warst mir näher, was aber daran liegen kann, dass ich Dich so früh verloren habe und nicht weiß, wie ich Dich in späteren Jahren empfunden hätte. So bist Du, lieber Papa, der ewig junge Mann. So bist Du, liebe Mama, die alte Frau, die irgendwann nichts mehr mit diesem Sylvesterbild zu tun hatte. Ich empfinde große Trauer, wenn ich Euch so sehe. Und große Freude, dass es Euch gab. Manchmal überlege ich, ob ich überhaupt etwas Brauchbares für mein Leben von Euch gelernt habe. Nein, sage ich im ersten Moment. Das war doch alles nichts. Nur romantisches Zeugs, das nicht praktikabel ist. Ich habe alle meine Lieben in den Sand gesetzt. Ich bin aus allen Beziehungen als unglückliches Wesen herausgerobbt. Ich habe das Weite gesucht. Ich habe mich gerettet. Ich bin mir selbst genug. Aber ich habe – Kinder. Das ist mir von heftiger Liebe geblieben. Das, was wirklich zählt in meinem Leben. Die Kinder sind es. Sie geben meinem Leben noch immer den Sinn. Ob es Euch auch so gegangen ist, weiß ich nicht. Ich hoffe, es geht Euch gut – da oben auf Eurer Wolke. Und ich hoffe, Ihr sitzt da so, wie auf diesem Bild, das mir von Euch bleibt.

Herzensprobleme oder – Herzneurose ist die neue Panikattacke

Hat das Weihnachten angefangen? Schon vorher? Schleichend auf jeden Fall. Mein Herz scheint damit zu beginnen, mich endgültig totzuschlagen. Normalerweise hab ich noch nie über dieses unaufhörliche Schlagen nachgedacht. Nun ist es soweit: Mein Herz flippt aus und schlägt unregelmäßig. Herzrasen. Herzstolpern. Googeln! Herzmuskelentzündung? Vielleicht. Herzrhythmusstörungen? Wahrscheinlich. Wie herausfinden? Exzessives Googeln macht noch verrückter.

Also ein Kardiologe. Termin am Mittwoch. „Wir machen einen Herz-Ultraschall und ein EKG und Sie nehmen dann ein 24-Stunden-EKG mit nach Hause und bringen es am nächsten Tag zurück.“ Gut. Dieser Herz-Ultraschall – erinnert mich an den Wetterbericht, den Schwangere stolz mit sich herumtragen. Ja, man kann das freche Ding schlagen sehen. „Sie haben eine Herzinsuffizienz, Grad 1. Heißt: Können wir vergessen!“. Aha. Warum gibt es denn dann Grad 1? (Hektisches Googeln zu Hause ergibt: Ja, stimmt. Grad 1 ist in der Skala, aber kein Handlungsbedarf.) Ansonsten tut das Herz, was es soll, keine krankhaften Veränderungen. „Aber ich merke ständig dieses Ruckeln und Rasen!“ „Wir machen ja noch das 24-Stunden-EKG und nächste Woche steigen Sie hier aufs Rad und das wird dann ein Belastungs-EKG.“

Während von Tag zu Tag Herzrasen und Ruckeln schlimmer und schlimmer werden, kommt der Tag auf dem Rad. Ich – Nicht-Radfahrerin – strampele vor mich hin, erst leichthin, dann schwerer, am Schluss kommt‘s mir wie bergauf vor. Die haben das so eingestellt. „Und jetzt noch zwei Minuten!“ feuert mich die Schwester an. – Ich schaffe noch 30 Sekunden und denke: Nee, so eine Brave bin ich nicht, dass ich mir hier noch einen abquäle. Ich mach Schluss und die zwei Schwestern, die dabei stehen, erzählen mir von Extra-Schlägen, die ich reichlich habe. „Machen Sie sich mal keine Sorgen, das haben viele. – Ja, klar, das macht Angst. Ist aber meist nicht so schlimm. Außerdem nehmen bei Ihnen die Extraschläge, wenn Sie sich anstrengen, ab.“

Soso, man rät mir zu sportlicher Ertüchtigung. Oder straffem Gehen. I’m not amused. Dann nochmal zum „Herrn Doktor“. Der spricht von 7000 Extraschlägen – auch Extrasystolen – genannt, die mein Herz einfach mal so am Tag mehr schlägt. Haben die auf dem 24-Stunden-EKG gesehen. Und auf dem EKG-Rad. Ich denke mir, falls die Schlaganzahl endlich oder begrenzt ist, was sie ja ist, sterbe ich wahrscheinlich sehr viel eher. Bei dieser Schwerstarbeit. „Kann das wieder weggehen?“ „Kann, kann aber auch nicht. Manche haben das einfach. Und merken es noch nicht einmal. – Ich verschreibe Ihnen einen geringdosierten Betablocker. Versuchen Sie es. Wir sehen uns dann in vierzehn Tagen.“

Ich besuche zu Hause mit spatzenhaftem Herzflattern tausende Seiten und Chats. Und weiß nun, ich hab vermutlich stressbedingte Extrasystolen. Betablocker entstressen und setzen den Puls runter. Und den Grundumsatz! Im Umkehrschluss: Ich werde zunehmen! Gott bewahre! Das kann ich wirklich nicht gebrauchen. Außerdem macht der seit letzter Woche folgsam eingeworfene Betablocker noch mehr Angst. Ich rase mit Volldampf in die Herzneurose. Sobald ich irgendwo zur Ruhe komme, stolpert und poltert das Herz laut wie ein Wackerstein bis zum Hals hoch. In den Chats sprechen einige von möglichem Herzstillstand. Herzneurose ist die neue Panikattacke, denk ich, was mich natürlich nicht davon abhält, Todesängste auszustehen. Die gestrenge Kollegin meint, ich solle dem Arzt doch mal vertrauen! Die esoterischen Freundinnen flüstern, ich solle darüber nachdenken, warum mein Herz Extrasprünge und Extraschläge vollführen müsse. ICH solle das doch bitteschön selbst tun, dann kann das Herz in Ruhe weiterschlagen. Da steh ich nun, ich armer Tor und bin so Beta wie zuvor. Weiter einwerfen die Dinger – oder ausflippen? Früher hatte ich Liebeskummer, jetzt hab ich Betablocker. Ich wusste schon immer, dass Altwerden nicht die „Kraft der zwei Herzen“ bedeutet. Kein fröhliches Senioren-Paar auf dem Fahrrad. Keine glückliche Yogatante mit grauem Wallehaar. Ich sitze da. Mit Wattekopf und blutendem Herzen auf dem Sofa und – esse Blockschokolade. Endlich ein ruhiger Betablocker-Tag. Frau gewöhnt sich an alles.

Die Schwermut des Leichtmutes

Schwermut ist ohne Furcht. Ich könnte das auch positiv sagen. Aber ich will es nicht und küsse diesen vermutlich furchtlosen Mann mit düsterem Blick. Küsse ihn und zieh ihn zu mir hinab. Bürde dem Furchtlosen einen Batzen Lebendgewicht auf. Worauf er sein Dasein an mir aufgibt und mit und zu mir verschmilzt. Hinfort weiblich, der Furchtlose. Die Schwermut. Das war – nun ja – Grammatik. Wer mag schon Grammatik. Ich nicht. Ich mag eigentlich gar nichts, zur Zeit. Vielleicht den düsteren Himmel, den fahlen Mond und dass ich allein bin. Ich bin immer allein. Ok, ab und an bete ich diese welke Lust an. Einsamkeit auch. Ja, klar, auch das Erinnern blüht. Immerdar. Nun aber gut. Denn ich hasse die Sonne. Ich hasse das Licht. Grabesstille lässt meine Seele in Poesie schwelgen. Verdammt meine Sinne in vergilbte Blätter und lässt mich in kalter Asche wühlen. Die Glut vergangener Liebe heraufbeschwören und weinen. Ich liebe die Tränen des Vergeblichen. Rinnsale unwiederbringlichen Glücks. Und treffe all meine Freunde der Nacht immer und immer wieder: die heulenden Hunde und blau blühenden Königinnen, den Regen, das Sterben, starre Augen und die Glut des Abschieds in eine andere Welt. Welt der schwarzen Stunden, der bösen Stimmungen, der vergnügten Trauer. Sie alle sind mein zu Hause. Gern zerbreche ich mir den Kopf. Sehr gern. Ich will wissen, wo ich wirklich herkomme. Hat das alles einen Sinn? Oder bin ich krank? Kreiere ich – die wahrhafte Kunst! Verzehre ich mich als Mittlerin zwischen Philosophie, Musik, Literatur und – bitterer Medizin? Ich könnte das anders nennen: Ihre Exzellenz, die Bitternis, geruhte zu verbrennen, zog es vor, schwarz zu werden und sich ins Blut zu ergießen. Ich trage es gern. Schwermut, Du bist meine Vorbereitung, leichtfüßig zu werden oder auf immer zu vergehen. Wer weiß das schon.

Der Junge mit der Gitarre – Peter Cäsar Gläser zum 68. Geburtstag

„Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an!“ – Seins hörte mit 59 auf. Sein Wahlspruch, niemals ausgesprochen, Englisch war nicht so seins, wäre „Live fast die young“ gewesen. Als naiver und sehr neugieriger junger Mann, der Elektriker gelernt hatte, der Blockflöte, Klarinette und Gitarre spielte, hatte er das Glück, als 17jähriger bei der Band mitspielen zu dürfen, die später zur DDR-Legende wurde. RENFT. RENFT – oder auch die KLAUS-RENFT-COMBO – spielte damals in der Nachtbar „Intermezzo“ in Leipzig. Abend für Abend. Und weil das für seine kleinbürgerlichen Eltern eine verruchte Nachtbar war, holte ihn der besorgte und strenge Papa abends um zehn Uhr wieder ab.

Er war ja unschuldige 17. Dann spielte der andere Gitarrist weiter bis zum Nachtbarschluss, der, den Klaus Renft für seinen „Neuzugang“ gekündigt hatte. Peter trank damals nur Limonade, war in die bereits berühmte Christiane Ufholz verliebt, die das aber ignorierte, und wusste noch nicht, wer er war und was er werden würde.

Zunächst musste er noch zur Nationalen Volksarmee. Standort Eisenach. Dort schrieb er Liebesgedichte und spielte Gitarre. Und gewann einen 3000-Meter-Regimentslauf. „Irgendwann werde ich mal etwas ganz Großes tun“. Dieser RENFT-Song war noch nicht geschrieben und getextet. Peter Cäsar Gläser kehrte mit dem späteren RENFT-Schlagzeuger Jochen Hohl im „Gepäck“, den er bei der Armee kennenlernte, nach anderthalb Jahren zur Band zurück. Jetzt erst begann seine kurze und heftige Karriere als der „Cäsar“ von RENFT. Sie währte vom ersten Hit „Wer die Rose ehrt“ bis zum 22. September 1975. Da wurde die Band RENFT verboten. Seltsamerweise ist der 22. September das spätere Geburtsdatum unseres Sohnes Moritz.

Ich sah Peter das erste Mal im „Haus Leipzig“ in Leipzig auf der Bühne. Ich war dort mit meinem damaligen Freund, der auch Gitarre spielte und auch Lieder machte. Und vor allem Texte. Er sagte zu mir: „Achte auf den Gitarristen! Das ist Cäsar!“ Und sah mich an, als hätte er mir soeben die Weltformel offenbart. – Ich, die ich mich für Rockmusiker Null interessierte, schaute notgedrungen auf den Gitarristen, auf Cäsar. Dass wir später mal 25 Jahre mit allen Höhen und Tiefen verheiratet sein würden, kam mir nicht einmal ansatzweise in den Sinn. Neben Lebenserfahrungen und Frauen lernte Peter bei RENFT auch das kennen,  was einen Rocker ständig begleitet: König Alkohol. Andere Drogen, außer Zigaretten, die er auch reichlich rauchte, gab es zu dieser Zeit nicht. Und er lebte schnell, trank sich fast um den Verstand, machte mit 28 den ersten Alkohol-Entzug. Da war ich dann schon dabei. Die Alkohol-Krankheit begleitete und überschattete sein Leben bis zum Schluss. „Wenn Du noch eine Chance bekämst, was würdest Du anders machen?“ – Das fragte ich ihn kurz vor seinem Tod. Er antwortete: „Ich würde versuchen, nicht mehr so viel zu lügen. Andere nicht mehr belügen und auch mich selbst nicht.“ Er bekam keine zweite Chance. Heute wäre er 68 geworden.

Miss Bella, Cremes und das Mysterium (Heilige) Familie

Warum Weihnachten feiern, wenn einer mit einem Schwerlaster vorher in einen Charlottenburger Weihnachtsmarkt rast? Das ist doch kein Weihnachten mehr! Solche Gedanken gehen mir natürlich auch durch den Kopf. Berlin ist eine gelähmte Stadt. Man fährt durch den festlich beleuchteten Ku’damm oder den Potsdamer Platz, die Mitte, die sich alle Mühe gegeben hat, Besonderes zu bieten. Aber es kommt nicht mehr an. Weihnachten ist beschädigt. Es hat keinen wirklichen Glanz. Der Glanz, der vorhandene, ist ein falscher.

Wir fahren durch diesen falschen Glanz, ganz ruhig, wie alle Autos um uns herum, ganz ruhig. Wir wollen zu meiner Schwester. Sie wohnt im Prenzlauer Berg. Und wir treffen uns „in Familie“. Wir haben einen Wildschweinbraten im Gepäck. Den hat mein Sohn Robert auf Wunsch der Familie gemacht, weil es keiner kann, wie er. Im Auto schaukelt außerdem ein Topf mit Rotkohl und ich klemme ein großes Glas mit Bowle zwischen die Beine. Die Rosmarinkartoffeln zum Wildschwein, Bouletten, Kuchen und allerhand anderes warten schon in der großen Wohnküche meiner Schwester. Wir frönen nicht der Schmalhansküchenmeisterethik des Weihnachtsabends, wie wir es früher taten, mit Würstchen und Kartoffelsalat. Wir essen viel und trinken viel. Und es sind meine Söhne da und es sind die Söhne meiner Schwester da und wahlweise auch Freundinnen der Söhne.

Später kommt noch Anna, meine Enkelin. Ich habe mich gefürchtet, dass sie ganz allein mit der S-Bahn am späten Abend gefahren ist. Früher habe ich mir über so etwas keine Gedanken gemacht. Aber die Zeiten sind andere. Erstmals ist auch Enkel Tamino – Sohn von Moritz – voll dabei. Er spricht schon und spielt hingebungsvoll mit der neuen Eisenbahn.

Wir haben wieder ein Juleklapp organisiert. Jeder der Erwachsenen hat ein Geschenk unter den Baum gelegt. Und jeder bekommt eins und muss raten, von wem es denn sein könnte. Das haben wir immer gern getan und es hat auch immer Spaß gemacht. An diesem reduzierten Heiligabend auch. Ich habe von meinem jüngsten Sohn Moritz Kosmetik bekommen, die Miss Bella, die Youtuberin, empfahl. Er hat mir zu jeder Creme ein kleines Briefchen, sogar mit Umschlag und Adresse geschrieben. Und mit einer Erklärung. Sehr süß. Ich habe mich unheimlich  gefreut, dass er sich offensichtlich vorher in meinem Umfeld erkundigt hat, was mich erfreuen könnte. Die handgeschriebenen Briefchen mit Umschlag von Miss Bella a.k.a Moritz sind natürlich der Clou. Ich glaube auch alle anderen waren dieses Mal mit ihren Geschenken sehr zufrieden. Ich resümiere, dieses durchaus beschissene Weihnachten hat uns gezeigt: Wir sind eine Familie. Wir halten zusammen. Alle, die gerade in unserer Familie nicht auf der Glückssträhne zu Hause sind, fangen wir auf. Und das ist das Wichtigste. Wir sind immer da. Wir sind eine Festung. Das Schlimmste auf der Welt ist, niemanden zu haben. Der Mensch soll nicht allein sein. Das stimmt. Das hält kein Mensch aus.

8. Dezember – Der Tag, an dem Robert, der Maya heißen sollte, auf die Welt kam – in einem tief verschneiten Leipzig der Siebziger Jahre.

Dieses Kind wird ein Mädchen und Maya heißen. Die erste Täuschung. Dieses Kind wurde kein Mädchen. Es wurde Robert genannt. Am Abend seiner Geburt sagte meine Mutter: „Du siehst aus, als käme das Kind heute noch.“ Sie gab mir ein Whiskey-Glas mit einer braunen Flüssigkeit und meinte, ich solle das trinken und dann in die Badewanne gehen. Ich tat das, wie geheißen. Es war kein Whiskey, es war Cognac. Damaliges Lieblingsgetränk meiner abendlich trinkenden Mama.

Nach Getränk und Wanne setzte ich mich auf das Sofa und dachte: Naja. War wohl nichts. – Plötzlich wurde es warm und nass um mich herum. Es lief aus mir heraus. Fruchtwasser. Blasensprung hieß das. Vorzeitiger. Also Krankenwagen anrufen und ins Krankenhaus – ins Leipziger Eitingon, wie wir das damals nannten. Es begann zu schneien, die Damen an der Pforte des Krankenhauses wollten mich abweisen und nach Zwenkau schicken. Eine benachbarte Kreisstadt im Kohlegebiet um Leipzig. „Gott im Himmel, ich danke Dir für den Blasensprung“, sagte der noch nicht Geborene später, „Ich danke Dir, dass Du verhindert hast, in Zwenkau geboren zu sein! Klingt doch bescheuert für einen Rockstar!“

Nun gut, der vorzeitige Blasensprung verpflichtete das Krankenhaus in Leipzig, mich in den eigenen Kreißsaal zu schicken. Überbelegt. Es war die Zeit, in der in der DDR viele Kinder geboren wurden. Kinderreichtum wurde auch mit sogenannten Sozialleistungen belohnt. Kinder brauchte die Republik, die noch unverdrossen in Richtung Kommunismus unterwegs war. – Doch hatte der überfüllte Kreißsaal – kommt von Kreischen, wie ich später hörte – nur einen Platz für mich, der sich gegenüber der hohen Fensterfront befand. Da lag ich, wie ein gestrandeter Wal, die ersten Wehen setzten ein. Lag da. Unattraktiv und breitbeinig, Hebammen schauten nach, was sich da zwischen den Beinen tat. Und über mir die Fensterputzer, die versuchten, diskret wegzuschauen. „Tut uns leid, junge Frau! Wir müssen eben irgendwann hier auch mal Fenster putzen. Liegt ja immer eine da.“

Tja, es gibt Um- oder Zustände im Leben einer Frau, in denen Fensterputzer als Zuseher bei einer Geburt egal sind. Und es kam noch ärger. Eine Hebamme lachte und sagte zur anderen: „Schau mal, das hat aber eine Vollglatze!“ – Die andere schaute genauer und rief: „Himmel, das ist doch der Arsch!“ – Einschub: Ultraschall und entsprechende Vorbildchen gab es zu dieser Zeit noch nicht. Die Ärzte sagten bei allen Voruntersuchungen, der Kopf sei unten, wo er hingehört. Sogar im Kreißsaal, als ich dort eintraf, wurde das noch einmal behauptet. Nun also eine reine – Steißlage. Hektisch wurde das Bett zu einem Operationstisch umgebaut und eine Ärztin im OP-Kittel preschte heran. Sie sagte: Entweder wir holen das Kind innerhalb von fünf Minuten per „kleinem Schnitt“ oder wir müssen einen Kaiserschnitt machen. Dann bekommen Sie eine Narkose.

„Das Kind“ war klein und dünn. Es reichte der „kleine Schnitt“ und es kam mit blauem Hintern, aber engelhaftem rosa Gesichtchen zur Welt. Halb erstickt, erst nicht schreien wollend, aber am Ende doch wohlbehalten. Das Kind, das später Robert hieß, hat der Welt als Erstes „den Arsch gezeigt“. Ist doch auch was, oder? Am nächsten Tag war die Aufregung schon ein bisschen vergessen. Der Vater stapfte von Leipzig-Connewitz durch die ganze Stadt durch den immer währenden Schnee bis zum Eitingon-Krankenhaus am anderen Ende. Väter durften damals bei Geburten nicht dabei sein. Und ich finde das heute noch gut. Mir reichten die Fensterputzer. Straßenbahn und Busse fuhren nicht. Autos kamen auch nicht durch, weil die Stadtreinigung mit dem Schnee nicht mehr klarkam. Es war ein verschlafen verschneiter Tag im sozialistischen Leipzig. Es war ein 8. Dezember. Einige Jahre später sollte an diesem Tag John Lennon erschossen werden.

Peter Cäsar Gläser – Gedanken zum unerhörten Leben in einem untergegangenen Land in einer sehr sehr lange vergangenen Zeit – am Totensonntag 2016

Heute ist wieder Totensonntag. Und ich denke an unseren Freund, Ehemann, Geliebten, Vater, Chaoten, Ordnungsfanatiker, Trinker, SingerSongWriter, Gitarristen, Flötisten, DDR-Rockstar, alternden, immer wieder – nicht mit seiner Zustimmung – als Blues-Barden bezeichneten, Peter Cäsar Gläser. Wir waren 25 Jahre verheiratet. Ich kann es mir manchmal schon gar nicht mehr vorstellen. Es ist eine versunkene Zeit. Es ist eine alternde Zeit, eine beinahe tote Zeit. Obwohl ich und andere, die dabei waren, heute gern davon schwärmen möchten. Und wir tun das auch. Es war unsere Jugend. Wir haben geheiratet, wir haben zusammen gewohnt, wir haben ein Nest gebaut, wir hatten Kinder, Verwandte und sehr, sehr viele Freunde. Wir hatten ein offenes Haus. Wir versuchten, über die Grenzen der DDR – zumindest kulturell und spirituell – zu springen. In Gedanken, mit viel Alkohol, viel Spinnerei, Naivität, Weisheit und Kreation. Und ungeheuer viel Zigarettenrauch. Wir hatten Malerfreunde, Musikerfreunde und –feinde, Stasispitzel, die wir für Freunde hielten, und Freunde, die wir für Stasispitzel hielten, die es aber nicht waren, in unserer Wohnung permanent zu Gast. Wir tranken Unmengen schlechten Alkohol, wir rauchten, dass die Schwaden die Wohnung Sepia einfärbten, wir feierten und brieten Steaks für Ankömmlinge in unserer Küche, deren Namen wir nicht kannten und auch nicht behielten. Falls wir sie überhaupt erfuhren. Wir hingen die Weihnachtsbäume an der Decke auf, erzogen unsere Kinder mehr schlecht als recht, vielleicht antiautoritär, wovon sie sich noch heute versuchen zu erholen, wir liebten und hassten, betrogen und belogen. Wir liebten. Irgendwie. Wir schmachteten denen im Westen per Westfernsehen hinterher, die wir für so ungeheuer frei hielten. Aber, was wir nicht wussten: Es ging uns gut. Wir hatten eine riesengroße – für heutige Verhältnisse – billige Wohnung. Wir hungerten nicht, im Gegenteil, wir machten gemeinsam die Bockwurst-Diät, bei der Peter abnahm und ich natürlich nicht. Wir diskutierten jeden Abend die politische Lage, ohne Angst zu haben, dass uns etwas passieren könnte. Obwohl wir wussten, dass der „Feind mithört“. Es war uns egal. Ich las jeden Morgen drei Zeitungen, in denen dasselbe stand und versuchte, zwischen den Zeilen zu lesen. Wir fanden alles Scheiße im Lande. Dieses System. Diese DDR. Wir wollten weg. Und das taten wir dann auch. – Wir verließen eine wundervolle Wohnung, die wir selbst ausgebaut hatten, mit allem Geld, das wir in diesen Jahren verdient hatten. Nach uns zog – wie wir hörten – ein Stasi-Offizier – dort ein. Der wohnt aber auch nicht mehr dort. Niemand wohnt mehr dort. Niemand, den wir kennen. Das Haus sieht heute von außen wunderbar restauriert aus. Wir sind in den Westen gegangen, um uns dort zu trennen. Nicht gleich. Aber nach zehn Jahren. Hier auf diesem Foto – Peter Cäsar Gläser – von mir mit Rasier- oder Frisiercreme gestylt – auf dem Schaukelpferd, auf das ich einmal nachts im Dunkeln fiel und mir zwei Zehen und zwei Rippen brach. Wir waren gut drauf. Wir waren glücklich, ohne es zu wissen. So ist das Leben. Der Totensonntag mahne all jene, die nicht wissen, dass es so sein kann. Er mahnt, der Toten zu gedenken und – dem Leben zu huldigen. Es kommt nie mehr wieder.

Aus einer vergangenen Zeit in einem untergegangenen Land I – Der schwere Weg in unsere „Kulturküche“ in Leipzig-Gohlis

In der DDR wurden die Wohnungen vom Wohnungsamt „zugewiesen“. Man brauchte als Paar eine Heirat und eine „Wohnungszuweisung“, um in eine Wohnung einziehen zu dürfen. Den Mietvertrag schloss man meist mit der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV), einer Arbeiter-Wohngenossenschaft (AWG) oder – selten – mit einem privaten Vermieter ab.

Als ich mit unserem jüngsten Sohn Moritz schwanger war, wohnten Peter, Robert, Ben und ich noch in einer sogenannten Teilhauptmiete. In einer großen Altbauwohnung mit alten Öfen und altem Parkett und noch älterem und zerfetztem Bodenbelag im Korridor – zusammen mit einer alternden Trinkerin und Tragödin, zusammen mit einem jungen, frisch verheirateten Paar, alle zusammen in dieser einen Wohnung. Peter und ich hatten eine eigene Küche und zwei Zimmer. Gemeinsam mit den anderen waren der Flur, die Toilette und das Bad, das wir kaum benutzten, da es dort nur kaltes Wasser gab – beheizbar mit einem alten Badeofen – und noch schlimmer, eine stumpfe, vor sich hin blätternde Badewanne. Alles war schmutzig, da keiner sich verantwortlich fühlte. In der Küche kaltes Wasser und ein Spülschrank mit herausschiebbaren Schüsseln, in die man warmes Wasser aus einem Miniboiler einfüllen musste, um Geschirr zu spülen. Wir hatten immerhin zu diesem Zeitpunkt schon eine vollautomatische Waschmaschine, die uns meine Mutter zur Geburt von Ben geschenkt hatte. Aber wir wollten dort raus! Ich hatte das dritte Kind im Bauch, die Trinkerin drohte jeden Abend mit Selbstmord, das Bodenholz der Küche war so verzogen, dass nur Eingeweihte darauf laufen konnten, ohne hinzufallen, und und und… ich erspare weitere Details.

Wir machten Druck beim Wohnungsamt, vor allem ich. Wir brauchten eine Zuweisung für eine neue und vor allem größere Wohnung. Allein für uns. Da ging ich also mit meinem dicken Bauch zu jeder Sprechzeit hin, und jammerte und bettelte: drittes Kind, Teilhauptmiete, bald fünf Personen und nur zwei Zimmer in einer verwahrlosten Wohnung, mein Mann, der Rockstar, kann ja nicht einmal Besuch empfangen!! Was wir alles erzählten! Tut uns leid, war die ewige Antwort. Wir haben leider nichts für Sie. Oder wir besichtigten schrecklichste Wohnungen und hatten uns schon damit abgefunden, dass das noch eine Weile so bleiben würde.

Dann kam das Angebot: 150 Quadratmeter Leipzig-Gohlis. Vier Zimmer, Küche, Bad, Riesenflur von 30 Quadratmetern. Vorher habe ein Schriftsteller, der Arztromane verfasse, darinnen gewohnt. Die Wohnung stehe schon drei Jahre leer. Warum? Da musste es einen Haken geben! Es gab einen Haken. Die Wohnung lag im Hochparterre und war nicht beheizbar. Sie hatte zwei kaputte Öfen, sonst nichts. Peter und ich entschlossen uns todesmutig, die Zuweisung für diese Wohnung anzunehmen. Wir wollten eine Gas-Zentral-Heizung einbauen lassen. Das Geld hatten wir, auch die Handwerker. Es gab ja genug Cäsar-Fans unter den Handwerkern. Das Problem war das Material. Das ewige DDR-Problem. Problem Nummer Zwei: Wir mussten im Innenhof des Hauses einen eigenen Schornstein bauen lassen, weil alle anderen Leute im Haus mit Kohle heizten. Und drittens: Um unsere dann irgendwann fertige Heizungsanlage in Gang zu bringen, brauchten wir ein Gerät, dass es nur für Westgeld gab. Auch das haben wir aufgetrieben.

Für den Schornstein mussten wir den Innenschacht einrüsten lassen. Da gab es über sieben Ecken einen privaten Gerüstbauer, der erkannte unsere Not und trieb den Preis so hoch, dass das Gerüst am Ende teurer wurde, als die gesamte Heizungsanlage plus Handwerker-Rechnungen.

Zum Abschluss schickten wir noch eine Malerfirma rein, die rissen alles ab, Tapeten, unter denen Zeitungen von 1949 zum Vorschein kamen, und malten den Stuck an, als gilt es das Leben. Die Decken sahen danach aus, als wären es Pralinenschachteln. Alle Türen und Fenster dunkelbraun (!) und neues Glas eingezogen. Dann noch eine Woche lang sämtliches Parkett abschleifen lassen und lackieren. Bad und Küche fliesen lassen. Die Fliesenbeschaffung war ein eigenes Kapitel. Nicht umsonst hieß die D-Mark in der DDR „blaue Fliesen“. Und einen Haufen neue alte Möbel kaufen. Im Leipziger Gebrauchtwarenhaus – so hieß das damals. Es gab noch sehr schöne alte Möbel – zu dieser Zeit, weil die meisten lieber Schrankwände wollten.

Kurz vor Moritz‘ Geburt war fast alles fertig. Es war Ende September, es wurde kalt. – Diese Wohnung – und vor allem die Küche – wurden später zu einem kleinen Kulturzentrum für die Künstler- und Musikerszene der Stadt Leipzig. Jeden Tag, tatsächlich jeden Tag, gingen Leute ein und aus. Schade, dass ich so viel vergessen habe. Schade, dass ich kein Tagebuch geführt habe. Als wir die Wohnung einweihten, kamen Wolf-Rüdiger Raschke, der damalige Band-Chef von „Karussell“ und Jochen Hohl, der Schlagzeuger, und öffneten eine große Flasche Sekt. Der Korken sprang so heftig an eine der Pralinendecken, dass es den ersten Fleck gab. Viele weitere sollten folgen. Hier wurde gelebt, geliebt, geweint, geschwatzt und getratscht, musiziert und gemalt, gestritten, dramatisiert, belauscht und geflüstert, gegessen, getrunken und vor allem – geraucht. Dazwischen immer unsere Kinder und deren Freunde. Heute sage ich: Es war ein gutes Leben. Und: Ich möchte es nicht noch einmal erleben. – (Man beachte die einsame Kerze ohne Kerzenhalter. Wir haben damals noch nicht so viel an Sicherheit gedacht. Die Tür stand immer offen und war nie abgeschlossen. Wer wollte, ging einfach rein. Unvorstellbar heute)

Herzens- und Schmerzensmann – Mein Sohn Robert Gläser II

Ich muss noch einmal über meinen ältesten Sohn Robert schreiben. Er hat mich wieder einmal beeindruckt. Gestern im „Bi Nuu“ in Berlin-Kreuzberg hat er ein zweites Konzert zu seinem Album „Robert Gläser“ gegeben. Dieses Mal hab ich mich nicht von all den Freunden und beinahe Verwandten ablenken lassen, denn die waren gar nicht da. Zum größten Teil nicht. Dieses Mal habe ich zugehört. Es gab familiäre schwerwiegende Gründe, dieses Konzert vielleicht sogar abzusagen. Aber Robert wollte es nicht. Denn „Mugge geht vor Katastrophe“ – ein altes Sachsen-Gebot der im Musikgeschäft tätigen Szene. Ich weiß, dass er im Backstage-Bereich eine Flasche Baldrian zu sich nahm und dass es ihm nicht gut ging. Ich hatte große Befürchtungen, bin ich doch stets ein Seismograph, der im Hintergrund die „Bösen“ wahrnimmt und dann regelmäßig Depressionen bekommt, weil die „Bösen so böse sind“ und das auch noch von sich geben. Ich kenn das noch von den Auftritten meines Ehemannes Peter Cäsar Gläser. Da stand ich im Hintergrund und registrierte diese „Bösen“, die ihn nicht mochten, mit schöner Regelmäßigkeit. Heute frage ich mich, warum waren die – da! – Ich weiß nun, wer bei Roberts Konzerten anwesend ist, liebt Robert genauso, wie ich ihn liebe. Aber: ich beobachtete – aus meiner Rückhalt-Position – auch Menschen, die da einfach – vielleicht auch als Touristen – so hereingeraten waren. Einer kaufte die CD und ein passendes T-Shirt und meinte: „Ich dachte erst, das ist so ein Wendler-Typ, aber das ist der gar nicht. Der ist ja großartig.“ Ich sah junge Mädchen, die tanzten und wippten bis zum Schluss. Die waren höchstwahrscheinlich die Freundinnen der sehr jungen Vorband. Hat mich gefreut. Robert war in seiner seelenverletzten Art zu Sein tatsächlich großartig. Denn ich weiß, ihm war nicht großartig zumute. Und ich – als Mutter – hatte sehr viel Angst, dass alles schiefgehen würde. Aber – auf die Bühne kam wieder einmal dieses Kraftpaket, der Mann „wie ein Baum“, der mit dem Publikum eine einzigartige Symbiose eingeht. Er vergaß Texte, er fing noch mal an, er brach in Tränen aus, er zeigte alle Seelenzustände, die ein Mensch haben kann. Und die, die gekommen waren, ihn zu hören, verstanden: Ich bin ein Mensch! – Ich habe meinen Sohn selten so stark erlebt. Und ich weiß, dass er es nicht so sieht, dass er glaubt, er hätte alles besser machen können. Wie er das immer glaubt, egal, wie gut etwas war. Nein! Stimmt nicht. Es war genau richtig. Alle, die da waren, hat er glücklich gemacht. Großer Dank auch an eine großartige Band, die ihn begleitet und unterstützt hat – und an alle anderen Helfer. Ein wunderbares Konzert – auch für die Pessimistin, die ich wohl immer sein werde. Ich bin stolz, so einen starken und kreativen Sohn zu haben.

Mein Sohn Moritz Peter Gläser

Moritz ist mein jüngster Sohn. Wie jeder meiner Söhne, ist er ganz anders, als „gedacht“ – geworden. Ich verstehe vieles nicht, was er denkt. Und denke, dass er tatsächlich schon zu einer anderen Generation gehört. Er fragt mich oft, was bestimmte Wörter bedeuten, die für mich selbstverständlich sind. Zum Beispiel „verschmitzt“. Sein Vater Peter Cäsar Gläser schrieb in seiner Autobiografie „Cäsar. Wer die Rose ehrt“ (2007), Moritz wäre schon mit einem „verschmitzten Gesichtsausdruck“ geboren. Als Moritz das las, fragte er mich: „Liebe Mutter, was ist denn „verschmitzt“?“ Das fragte mich Moritz, der ein begnadeter Wortkünstler ist. Seine Texte, die er schon sehr früh begann zu schreiben, haben mich immer wieder fasziniert. Als eine, die selbst schreibt, besonders. Ich könnte nie schreiben, was er da macht. Es ist eine andere Welt. Angefangen hat es schon am Gymnasium, als die Deutsch-Aufgabe lautete: Schreiben Sie „Romeo und Julia“ von William Shakespeare in eigenen Worten um. Er tat das. Aber er „dichtete“ es um. Ich war vollkommen von den Socken, so großartig fand ich, was er da geschrieben hatte. Leider war die Lehrerin nicht meiner Meinung und gab ihm eine Vier. Es war aber die Zeit, als ich schon aufgegeben hatte, bei dummen Lehrerinnen für meinen Sohn zu werben. Er verließ dann diese Schule in der 12. Klasse und ging nach Leipzig. Er hatte einen Studienplatz – einer von dreien – in der Bass-Klasse der Hochschule für Musik „Felix Mendelssohn Bartholdy“ ergattert. Weil er – ohne Noten zu können – so großartig spielte, dass man sich für ihn entschied. Er war siebzehn und das neue „freie Leben“ in Leipzig und in einer WG führte dazu, dass er nach einem Jahr wieder exmatrikuliert wurde. Ein Schicksal, dass seinen Vater in den Siebzigern ebenfalls ereilte. Es hieß damals „wegen schlechter Studiendisziplin“. Beide gefeuert. Beide weitergemacht.  Schade, sagt Moritz dennoch heute, wäre ich nur älter und klüger gewesen. Ich sage, es war eine Erfahrung. Immerhin gewann er den 1. Preis in einem Wettbewerb der Zigarettenmarke „Cabinet“ – eine ehemalige DDR-Zigarette, die es heute noch gibt – in der Sparte Musik. Für seine ersten Rap-Gesänge, die wir alle mit Begeisterung und Erstaunen hörten, und vor allem auch für seine großartige Performance auf der Bühne. Die Zeitschrift „Magazin“, ehemals DAS Magazin, das monatlich die einzige Nackte als Fotoakt in der DDR enthielt und heißt begehrt war, druckte seine Texte. Nur Robert, mein ältester Sohn und gleichzeitig Moritzs schärfster Kritiker und natürlich auch treusorgender Bruder, fand, Moritz singe immer nur „auf einem Ton“. Tja, hat Rap so an sich, oder? Wie Robert, mit dem Moritz regelmäßig den Super-Battle ausfocht und noch immer ficht, probierte, irrte und korrigierte Moritz ständig seine Musik und sein Leben und überhaupt alles. Heute wird er 35 Jahre alt und sieht noch immer aus wie 25. Er steht nun oft stellvertretend für seinen 2008 von uns gegangenen Vater auf der Bühne und fühlt sich nicht besonders wohl in dieser Rolle. Er will nicht „der kleine Cäsar“ sein, obwohl er so aussieht. Er will etwas Eigenes machen, was ich verstehe. Zur Feier des 44. Geburtstages seines Bruders Robert im Dezember 2015 konnten die vielen Gäste sehen, was er meint. Wenn er SEINE Musik macht, steht er nicht – wie sein Vater – auf der Bühne, sondern er springt und tanzt und performt. Singt seine eigenen Texte und spielt seine eigene Musik. Dann ist er nicht mehr der schwierige und irgendwie unfreundliche Moritz, wie ihn oft die Anderen sehen. Dann lacht er auf seine unnachahmliche Art, von der ich mir wieder mehr wünsche. Inzwischen ist er auch nicht mehr der „Kleine“, der „Unordentliche“, der „Zuspätkommer“ und „Chaos-Mensch“ (O-Ton Robert). Im Dezember 2014, genau an Roberts Geburtstag, ist Moritz Vater von Tamino geworden. Dieses Kind hat Moritz noch einmal verändert. Er hat Verantwortung übernommen. Nicht nur für sich, sondern auch für einen anderen Menschen, der neu auf diese Welt kam. Ich liebe meine Söhne Robert, Ben und Moritz. Jeden auf seine Art. Sie sind verschieden. Sie streiten und sie vertragen sich. Jeder ist eine ganz eigene Kreation. Moritz – ich gratuliere Dir zum Geburtstag. Ich liebe Dich, so, wie Du geworden bist. Und auch so, wie Du noch werden wirst. Da habe ich große Hoffnungen.

Foto: Moritz und Robert Gläser