„Hast Du noch ne CDU für mich?“ – als ich einmal Wahlbeobachterin war…

Eigentlich hatte ich Zahnschmerzen. Aber – ich schleppte mich ein weiteres Mal in die Schule um die Ecke. Und betrat mein Wahllokal mitten im beschaulichen Charlottenburg in Berlin um drei Minuten vor 18.00 Uhr. Man wollte mir die erforderlichen drei Wahlscheine in die Hand drücken. Ich kann nicht besonders eindrücklich gewesen sein, am Nachmittag, da war ich schon einmal dort, um meine drei Kreuze zu machen. Die in diesem Fall gefordert sind oder eben nicht.

Hier bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zur Bezirksverordnetenversammlung am 18. September waren drei Kreuze wirksam, falls jeweils nur eins auf den drei Wahlzetteln stand, eine Unterschrift dagegen nicht. Aber – und das erfuhr ich im Verlauf des sehr sehr langen Abends: Ab sofort kann man in den aufgedruckten Kreis seiner Wahl nicht nur ein Kreuz setzen, auch ein Haken, eine Sonne oder ein Smiley haben Gültigkeit, sofern sie sich im Kreis für das ehemals ausschließlich geforderte Kreuz befinden. Kapiert? Ich erst auch beinahe nicht. Fürs nächste Mal bin ich belehrt: Es ist egal, was man in den Kreis malt, man drückt mit der Innengestaltung des Kreises neben der Partei der Wahl sein „Ja“ aus. Egal, mit welchem Zeichen oder welcher Zeichnung. So setze man also ab sofort sein ganz individuelles Zeichen. – Stand das in irgendeiner Zeitung? Wurde das im Fernsehen verkündet? Ich hörte oder las es jedenfalls nicht. Das erörterte ich im Laufe des Abends mit der „Chefin“ meines Wahllokals. Denn ich war die Wahlbeobachterin. Die einzige weit und breit.

Ansonsten scheint es niemanden in meinem Wahlbezirk zu interessieren, was die bienenfleißigen Wahlhelfer nach 18.00 Uhr treiben. In meinem Lokal waren es sechs Damen und ein Herr. Sie staunten, was ich bei ihnen wolle. Mal zuschauen, was Sie hier so tun? – Das ist Ihr gutes Recht. – hieß es dann. – Ja, das wusste ich natürlich. – Es wird aber bestimmt bis 22.00 Uhr dauern. Wir haben hier unser ganz spezielles System. Wir machen das schon viele Jahre zusammen. – Ok, schreckt mich nicht. Ich bleibe dann bis 22.00 Uhr.

Und so war mein Da-Sein akzeptiert. Einer flog noch herein und gab seinen „Tipp“ ab, dann schloss das Wahllokal, ich musste formal noch einmal „raus“. Und dann öffnete sich die Tür wieder – für mich und den Hausmeister der Schule, der noch bleiben wollte „bis zum letzten Wahlzettel“. Das war beruhigend.

Und so ging es also los. Die Wahlurne wurde auf dem Tisch geleert. Die „Chefin“ zählte in dem großen Buch, in dem alle Wähler standen, jene heraus, die wirklich gekommen waren. Die anderen fünf Damen und der eine Herr sortierten die orangen, die blauen und die grauen Scheine und zählten sie. Die Zahl der Wahlscheine durfte nicht größer sein, als die Anzahl der im Buch vermerkten Wähler. Ok, hab ich kapiert. Manche gehen in die Kabine und zerknüllen den Schein oder nehmen ihn mit nach draußen oder werfen ihn in den Papierkorb. Eine siebenköpfige Familie ging gemeinsam in die Kabine, da wurden sie wieder herausgerufen. Das geht gar nicht! – erzählt die „Chefin“. – Sie wären doch eine Familie und wollen alle das Gleiche wählen, hieß es. – Können Sie ja, aber nicht alle auf einmal in einer Kabine. Jeder müsse für sich hineingehen. Da gab die Großfamilie ihre ausgefüllten ungültigen Scheine wieder ab und ging. Sie wollten nicht einzeln wählen. Stimmen verschenkt. Schade. Ich hatte kapiert. Scheinanzahl Buch muss gleich oder größer sein als Scheinanzahl Tisch. War sie aber nicht. Erste Aufregung. Irgendwer musste sich verrechnet haben. Der Fehler wurde gesucht und gefunden.

Es herrschte extreme Konzentration im Raum. Keiner sprach, keiner trank oder aß etwas. Es wurde nur sortiert und gezählt. Die Ergebnisse verglichen. Denn nach der ersten Großzählung wurden die Parteien ausgezählt. Erster Wahlvorschlag Erststimme für das Abgeordnetenhaus. Dann Zweitstimme für das Abgeordnetenhaus. Dann Bezirksverordnetenversammlung, für die aber viele Parteien gar nicht antraten. Alles wurde in Zehnerpäckchen gelegt, um am Ende alles zusammenzählen zu können. Um so ein Zehnerpäckchen „voll“ machen zu können, hieß es dann: Hast Du noch ne CDU für mich? Oder: Wer hat die Tierschutzpartei? Oder: Noch irgendwo ne FDP? Nee, ich hab hier die Piraten.

Dann packte man die Zehnerpäckchen zu Hunderterpäckchen, um wiederum alles zu zählen und in einer Liste zu notieren. Es war ein Geraschel und Atmen und Murmeln. Langsam machten sich Müdigkeit oder Nackenstarre breit, aber die routinierten Helferinnen und der einzige Mann im Raum schafften es,  dass am Ende alles stimmte. Alles Fertiggezählte in Tüten verpackt, Zahlen ans Wahlamt gemeldet und später von der „Chefin“ zur zentralen Stelle ins Rathaus gebracht.

Neu für mich: Briefwahlen werden irgendwo im Bezirksamt parallel ausgezählt. Erstaunlich für mich: Während „wir“ gerade erst mit der „Zählung“ begannen, feierten oder greinten schon die Gewinner und Verlierer der Berlin-Wahl 2016 im Fernsehen über ihre Zahlen. Was stimmt da nicht? Fragte ich mich. Nun ja. Wer es weiß, kläre mich auf. Der Hausmeister schloss mir die Schule wieder auf und ich hüpfte zufrieden über die Zählkünste meiner Wahllokalmannschaft und ihren unaufgeregten Fleiß nach Hause und entkorkte eine Flasche Sekt. Auf Elisabeth, die Wahlbeobachterin!

Einmal Westen ohne Wiederkehr. Teil Zwei. Familie Gläser wird integriert

Wie ging es weiter? Mit der „Integration“ von Familie Gläser in die Bundesrepublik Deutschland bzw. in das alliierte Westberlin? Das war so:

Klaus Renft fuhr uns nach Marienfelde, in die damalige Aufnahmestelle für Übersiedler in Berlin-Tempelhof. Dort waren fast nur Ostdeutsche und vorwiegend Polen, die ihr „Deutsch-Sein“ nachweisen konnten. Als wir ankamen, Peter und ich, zwei kleine Kinder, Ben und Moritz, und ein jugendlicher Robert, hielt man uns sofort an der Pforte für Polen. Wir müssen etwas bunter gewirkt haben. Die Wächter am Eingang des „Auffanglagers“ sprachen uns in gebrochenem Deutsch an. „Sie verstehen deutsche Sprache?“ – „Ja, wir verstehen. Wir sind aus Leipzig!“ – „Ach so, wir dachten Polen!“ – Ok, das verstand ich erst einmal nicht. Doch sollte ich es später verstehen, dann, als wir „eingegliedert“ wurden. In ein Studentenheimartiges Zimmer – zu fünft mit Doppelstockbetten – um uns herum wurde polnisch gesprochen. „Miiichai!“ – ertönte es aus dem Nebenzimmer. Robert – schon damals unser Parodist – hatte das ganz schnell drauf: „Miiichai“ – mit einem ch wie in ach. Er rief es ständig inbrünstig überall herum, so dass ich ihn schon mäßigen musste. Denn Michail wurde oft gerufen. Und überhaupt – diese Polen. Überall waren sie. Überall waren sie die Ersten. Und erstmalig bekam ich ein Gefühl dafür, eine Deutsche zu sein.

Wir hatten es ja in der DDR nicht so mit dem Deutschsein, auch wenn das heute viele denken. Das Wort Deutschland wurde gemieden wie die Pest. Wir hatten es zwar im DDR-Namen und auch im SED-Namen, aber ansonsten kam es nicht vor. Nur als Siegmund Jähn ins Weltall geschossen wurde, las ich erstmalig wieder in den DDR-Zeitungen: „Der erste Deutsche im All“. Aha, sind wir also doch Deutsche. Wir lachten damals darüber. Ansonsten machten wir uns darüber nicht soo viel Gedanken. Wir waren DDR-Bürger, wenn auch nicht gern. Plötzlich sollten wir also anerkannt „Deutsche“ werden. Dafür mussten wir diverse Stationen durchlaufen – in diesem „Lager“. Ich zähle sie auf, den „Laufzettel“ hab ich heute noch:

Ärztlicher Dienst

Sichtungsstelle

Weisungsstelle

Bundesaufnahmestelle Berlin (Annahme des Antrages, Vorprüfung, Ausgabe des Aufnahmescheins)

Landeseinwohneramt Berlin – Meldestelle

Bundesanstalt für Arbeit

Allgemeine Ortskrankenkasse Berlin

Zentrale Beratungsstelle für Aussiedler und Zuwanderer

Sonderbetreuung und Beratung für ehemalische politische Häftlinge

BVG-Freifahrtausweise

Taschengeld

Bekleidungsbeihilfe

Friedlandhilfe

Alliierte: Franzosen. Briten. Amerikaner.

Bundesverfassungsschutz

Diverse Beratungsangebote der Kirchen, Arbeiterwohlfahrt, Landesausgleichsamt Berlin etc.

Ohne einen Stempel von all diesen Stationen konnte man die Aufnahmestelle nicht verlassen. Da war ein „Run“ auf diese Institutionen, bei dem die Polen irgendwie schneller waren. Einer der Gründe für beginnende Feindseligkeiten der Ostdeutschen gegenüber den Polendeutschen, die allerdings kein Deutsch sprachen und das einfach ignorierten. Die meisten Beamten machten gegen Mittag Schluss. Dann musste man auf den nächsten Tag warten und die Nachmittage irgendwie rumbringen. Ich entschloss mich, jeden Tag um halb vier aufzustehen, nahm mir ein Buch und stellte mich ab ca. 4.00 Uhr an. Ich war nicht allein, aber es klappte, dass wir nach ca. zehn Tagen „raus“ waren.

Zwei lustige Erlebnisse: Bei den Amerikanern hatten wir es mit einer älteren Dame mit polnischem Namen und breiten amerikanischem Akzent zu tun. Sie fragte meine Musikermann Peter, neben seltsamen Fragen über die Truppenstärken an der Grenze während seines damals bereits zwanzig Jahre zurückliegenden „Dienstes“ bei der Nationalen Volksarmee der DDR, folgendes: „Und Sie sind also Musiker! Spielen Sie Reggae?“ Peter verstand sie nicht. Und guckte dumm. Sie fragte etwas lauter: „Und, spielen Sie Reggae??!! (Ich flüsterte ihm zu: Ob Du Reggae spielst, sag einfach ja! Du hast doch da so einen „Katzenjammerreggae“!) – Peter aber sagte: „Nein, ich spiele keinen Reggae.“ – Und die gestrenge Amerikanerin antwortete zufrieden: „Very good, Reggae kann ich nämlich nicht leiden!“ Sprach‘s und entließ uns wieder nach draußen.

Die zweite lustige Begebenheit trug sich bei der Übergabe unseres sogenannten Aufnahmescheines der Bundesaufnahmestelle Berlin zu. Die Beamtin erklärte uns, dass wir diesen Schein nicht verlieren dürfen. Es sei wie eine neue Geburtsurkunde – für die ganze Familie. Aufgezählt waren: Gläser, Peter, geboren in Leipzig. Gläser, Elisabeth, geboren in Leipzig, Leipzig, Robert, geboren in Leipzig, Gläser, Benjamin, geboren in Leipzig und Gläser, Moritz, geboren in Leipzig. Sie schaute noch einmal irritiert auf die Urkunde und fragte plötzlich: „Haben Sie ein Kind, das mit Nachnamen Leipzig heißt? Da steht „Leipzig, Robert“, geboren in Leipzig?“ – „Das haben Sie geschrieben, sagte ich, „war wohl bisschen viel Leipzig auf einmal…“. Wir lachten und sie änderte die Urkunde. So wurde aus „Robert Leipzig“ wieder ein „Robert Gläser“. Und wir konnten das Aufnahmelager verlassen. Ausgestattet mit etwas Geld und einer Art Zuweisung für eine Pension in Berlin-Charlottenburg. (Das ist aber eine neue Geschichte).

P.S. Ich hab noch etwas vergessen. Robert hatte, ehe wir nach Westberlin ausreisten, nagelneue Schuhe im „Exquisit“ gekauft, also in einem der DDR-Läden, in denen alles fünfmal teurer, als in normalen Läden war. Diese Schuhe – sein ganzer Stolz damals – hatte er in dem engen Doppelstockbett-Zimmer in Marienfelde in eine Plastiktüte gesteckt und an die Tür gestellt. Die Tüte hab ich aus Versehen mit den anderen Abfalltüten in den Müll gegeben. Robert rannte dem davonfahrenden Stadtreinigungsauto noch rufend und gestikulierend hinterher. Vergebens. Das hat er mir mindestens ein Jahr nicht verziehen.

Als wir staatenlos waren und von Ost nach West wechselten – im Gepäck drei Kinder und drei Koffer und sonst nichts

Nein, ich freu mich nicht! Ich möchte nicht schon wieder Geburtstag haben. Morgen ist wieder so ein 15. Juni. Es zählt sich so über die Jahre dahin. Früher, ja früher, da war das noch was. Wie ersehnte ich den 10. herbei. Endlich zwei Zahlen! Wie fieberte ich dem 14. entgegen. Endlich ein Personalausweis, mit dem ich in Erwachsenenfilme gehen konnte, mit meinem Freund! Wir küssten uns zwar nur und es wäre egal gewesen, was da vorn auf der Leinwand läuft. Aber so ein Personalausweis in der DDR, das war etwas vollkommen anderes als heute. Es war der AUSWEIS.

Wir vergötterten dieses blaue Ding und verglichen die Fotos und die Geburtsstädte. Ich hatte Leipzig. Nicht so toll. Meine Mutter hatte ja Rio de Janeiro. Mein Vater Lichtenstein. Dem ich gern ein „ie“ verpasst hätte, denn ohne das „ie“ war es leider nur ein Kaff in Sachsen. Mein erster Ehemann war (noch) in Niederschlesien geboren. Die Stadt hieß Waldenburg. Er liebte es, in Waldenburg geboren zu sein. Als er seinen Personalausweis später erneuern ließ, stand plötzlich – ohne, dass er gefragt wurde – Wałbrzych drin. Er wurde schier wahnsinnig. Was ist das? Ich bin nicht in Wałbrzych geboren! Doch die DDR hatte ab sofort eingeführt, dass die Städte der ehemaligen „Ostgebiete“ in der Sprache der jetzigen Bewohner im Ausweis standen. Und das waren nun einmal die Polen. Ich – damals noch auf DDR-Art politisch korrekt – versuchte ihn zu beruhigen: „Das ist jetzt eine polnische Stadt. Ist doch schön! Bist Du halt in Polen geboren.“ – Ich erspare mir die Antworten. 

Wir waren beim Ausweis. Dem Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik. Man musste ihn ständig bei sich tragen. So stand es drin. Und wehe, wenn man kontrolliert wurde, und das geschah in jungen Jahren oft, und man hatte ihn nicht dabei! Der Blaue war ein kleines Büchlein mit vielen Seiten, falls man mal ins Ausland wollte. Für die Stempel. Manche hatten sogar welche drin. Möglich waren nur Ungarn, Sowjetunion (auf Einladung und mit Visum), Rumänien, Polen, Tschechoslowakei, Bulgarien. Unsere sozialistischen Bruderländer. In den Achtzigern hatten manche einen Stempel aus der Bundesrepublik Deutschland. Besuche bei großen Familienfeiern oder aber privilegierte Künstlerreisen waren vermehrt möglich.

Natürlich nicht für mich. Außer Polen und Tschechei nichts gewesen. Ich wollte ihn los sein, den Blauen. Und ich wurde ihn los. Und tauschte ihn gegen Staatenlosigkeit. Entlassen aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Für 48 Stunden. Mein Mann Peter und ich kämpften uns mit drei Kindern und drei Koffern durch die engen Kontrollgänge des „Tränenpalastes“ in der Friedrichsstraße in Berlin. Meine Freundin Anne brachte uns nach Berlin – mit dem Lada. Sie rief noch: „In 25 Jahren werde ich 60 – dann komm ich Euch besuchen!“ Dann bogen wir um eine Ecke. Die Grenzer schauten finster und kontrollierten unsere Koffer. Wir hatten nichts. Nicht einmal eine Mark. Weder Ost- noch West-Mark. Eine Westberlinerin stand hinter uns und fragte: „Ausgereist? Wo wollt Ihr hin?“ – „Bahnhof Zoo“ – sagte ich mutig.

Und war dann sehr entmutigt, als ich nach Passieren der Grenzkontrollen auf der Westseite des Bahnhofs Friedrichstraße stand. Wir alle, wir fünf, schauten dumm aus der Wäsche: Das sieht doch aus, wie im Osten! – Dreckig, Soldaten mit Hunden und – allerdings besser gekleidete S-Bahnfahrende. Ein Intershop. Ich verstand das nicht. Die freundliche Dame erklärte uns: „Das ist auch Osten. Aber hier dürfen nur Westberliner oder solche wie Ihr hin.“

Ok, ich verstand erst einmal nichts mehr. Wusste aber, dass am Bahnhof Zoo Klaus Jentzsch wartet. (DDR-Menschen auch als Klaus Renft bekannt.) Er wollte uns abholen. Aber wir mussten erst einmal in die S-Bahn steigen und gen Zoologischer Garten fahren. Klaus stand am Bahnsteig. Begeistert über unser Kommen. Und hatte auch gleich einen Journalisten im Schlepptau. Der sollte mich und die kleinen Kinder und die Koffer in die Wohnung von Klaus bringen, der damals beim KaDeWe um die Ecke wohnte. Peter, Robert und Klaus wollten über den Breitscheidplatz laufen. Zwischenstation Europacenter. Das mit dem Mercedesstern. Der Bahnhof Zoo war damals noch so, wie zu Zeiten von Christiane F. und ihren „Kindern vom Bahnhof Zoo“. In den Ecken saßen betrunkene Schnorrer mit Bierbüchsen, vor dem Bahnhof lagen tatsächlich Heroinspritzen. Ich war ein bisschen entsetzt. Den Westen hatte ich mir schöner vorgestellt. Robert brachte später die Nachricht des Tages. „Mutter stell‘ Dir vor, wir sind durch ein Kaufhaus (Europacenter) gelaufen, da fließt ein Fluss!!“ – Für den Fluss konnte man dann schon mal ein paar Tage staatenlos dem Ungewissen entgegenlaufen.

Wir hatten kein Geld, keine Wohnung, keine Ahnung, was werden sollte. Aber wir hatten uns. Und wir hatten Freunde. Nach drei Tagen meldeten wir uns in der Aufnahmestelle Marienfelde in Tempelhof. Dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Ein neuer Ausweis – „vorläufiger, behelfsmäßiger“, wir waren jetzt Westberliner im Alliiertenstatus – war auch dabei. Ich war jung und wusste nicht, was noch alles kommt. Manchmal denke ich – Gottseidank! (Fortsetzung folgt)

Als ich ein Junge war – und dann nicht mehr. Mein heimlicher Weg zum ersten Kuss

Als ich ein Junge war. Da war ich zehn. Da wünschte ich mir den Vornamen „Jura“. Das war irgendwie russisch, klang aber in deutschen Ohren wie ein männlicher oder auch weiblicher Vorname. Ich wollt nicht, dass jemand weiß, was ich bin. Ich wollt ein Junge sein. Besser, ich hätte Jura studiert, aber nein, ich wollte nur so heißen. Russische Jungen, hörte ich, werden ab und an so genannt. Das „a“ klang dennoch weiblich. Ach, ich weiß nicht, was da so in meinem Kopf vorging. Auf jeden Fall lehnte ich die Geschlechtertrennung ab, schor mir die Haare auf beinahe Glatzenniveau und trug Lederhosen. Kurze selbstverständlich. Es war der Sommer, in dem ich elf Jahre alt wurde. Ich wollte ein Junge sein. Ich war sportlich und ich wurde im Schwimmbad aus der Mädchentoilette geworfen, was ich mit teuflischer Lust registrierte. Ich war dennoch in Peter aus meiner Klasse – einer Spezial-Sport-Klasse – verliebt. Und später in Uwe im Kinderferienlager. Der mich zwar enorm kumpelhaft fand, aber die erhofften weiblichen Lockmittel offensichtlich bei mir nicht entdecken konnte. Da war ich halt die, mit der man Pferdestehlen konnte. Mehr nicht. Ich weiblicher Knabe war nicht so sexy wie der-die in der Shakespeare-Komödie „Was ihr wollt“. – Der Umzug in eine andere Stadt bewahrte mich vor weiteren Feinabstimmungen an meiner sozialen Skulptur „Das Mädchen, das ein Junge sein will“. Ich kam in eine neue Klasse, ich war zwölf, es regte sich etwas Unbekanntes in mir. Die Lederhose wurde zu klein und ich ließ mir die Haare wieder wachsen. Ich hatte meinen ersten Freund: Norbert. Das war so aufregend, dass ich den ersten pubertären Ausbruch mit wütenden Tiraden gegen meine Mutter antrat: Ich lass mir das von Dir nicht nehmen! Ich habe jetzt einen Freund! Basta! – Sie sagte wider Erwarten: Was willst Du denn? Ich hab doch gar nichts dagegen! – Komisch. Probleme hatte ich ausnahmsweise mal nicht mit der Mutter, sondern mit Norbert. Ich konnte ihn nicht küssen. Denn ich wollte es richtig machen. Doch wo konnte ich erkunden, wie richtiges Küssen geht? Nirgends. Ich durchwühlte das elterliche Arbeitszimmer und fand am Grunde des Bücherschrankes in einem Versteck ein „Aufklärungsbuch“, das ich aufgeregt und heimlich durchlas. Und ich fand „Die schönsten Abenteuer des Giacomo Casanova“, dessen Name mir bis zu diesem Tag unbekannt war. Ich las auch dieses Buch in meinen Solo-Nachmittagsstunden, wenn die Eltern auf der Arbeit waren. Allerdings war es nicht ganz so hilfreich, wie das „Aufklärungsbuch“, das den Sexualakt nüchtern schilderte, als wäre das etwas notwendigerweise – leider, leider – zu Absolvierendes. Ok, ich war nun informiert. Ich war auch irritiert, weil ich erstmalig feststellte, dass meine Eltern etwas vor mir versteckt hielten. Und weil auch ich erstmalig ein Geheimnis hatte. Ich legte die versteckten Bücher wieder zurück. An den alten Platz. Und irgendwann haben wir es dann „geschafft“. Norbert und ich. Natürlich nur das mit dem „Küssen“. Ich kann mich weder erinnern, ob es am Ende richtig war oder gar gut. Es war. Sonst nichts. Ich war kein Junge mehr. Ich war ein Mädchen. Hatte mittellange Haare und sah schon so gut aus, dass die Jungs unten vor der Tür ständig klingelten. Norbert war der erste, aber nicht der letzte.

Herzens- und Schmerzensmann – mein Sohn Robert Gläser

Mein Sohn Robert Gläser. War immer was Besonderes. Zum Beispiel verweigerte er konsequent sozialistische Beschulung. Und widmete sich lieber dem, was er für richtig hielt. Das hieß zu Beginn „Hexenschuss“, später „L’Attentat“, dann „Reininghaus“ und noch später „Cäsar und die Spieler“. Erst Schlagzeug, dann Bass, auch mal Singen. Robert suchte und suchte. Gründete Bands wie „The Buffdicks“, wie war das großartig, und trat im roten Minirock auf, der auch mal beim „Springen“ auf der Bühne „Dinge freilegte“ (wow). Verrückt, dieses Kind, unbezähmbar, unbezahlbar, unbeirrbar. – Was mir schnell auffiel, war sein einzigartiger Humor. Schon als Zwölfjähriger konnte er alle in seiner Umgebung parodieren, dass wir vor Lachen „ins Essen fielen“. Damals sagten viele: Du musst Schauspieler werden. Aber ihm war das Auswendiglernen von Goethe-Texten zu langweilig oder auch zu überflüssig. Oft hab ich mir Gedanken gemacht – über dieses ungewöhnliche Kind. Oft hab ich mir Sorgen gemacht. Aber – einige Jahre später schenkte er mir meine Enkelin Annamaria und meinen Enkel Mio. Unbedingt zu würdigen – die Mütter. Denn sie haben einen großen Anteil an diesen wunderbaren Kindern. Robert hat einen untrüglichen Familiensinn, der mich manchmal sogar nervt. Immer an Weihnachten möchte er die Familie zusammenhalten und natürlich müssen alle dabei sein. – Er hat mich gelehrt, dass es nichts Wichtigeres gibt, als die Familie. Unsere Familie. Er hat mich gelehrt, dass es egal ist, was Du tust, dass Niederlagen zum Leben gehören, dass wir sie als Chance begreifen können, dass Erfolg immer nur ein kurz währendes Glück ist. Dann geht es weiter. Glück ist fragil. Die Liebe ist ewig. – Ich bin stolz, dass Robert immer wieder dieses Glück und diese Liebe sucht, sie nicht als unerreichbar erklärt und jetzt sein neues Album „Robert Gläser“ herausgebracht hat. Da ist all das enthalten, was ihn umtreibt, was ihn treibt, was ihn hält.

Foto: Robert/Leipzig ca. 1982

Traumfamilien Teil 1 – Explosionen, Hustensaft, Eier und ein ausgepumpter Magen

Frühe Erinnerungen. Meine Oma und ich spielen die Hauptrollen. Meine Oma und ich sitzen vor dem großen Kachelofen. Sie zeigt mir, wie man den heizt. Erklärt und erklärt und hält ein Streichholz in der Hand, schaut nicht mehr auf die Hand, sondern mir ins Gesicht, erklärt und plötzlich schießt ein Feuerpfeil mit lautem Knall nach oben. Die Streichholzschachtel explodiert, weil Oma sie angezündet hat. Sie ist ganz schwarz im Gesicht. Ich renne flugs in die Küche, stelle einen Stuhl an den Küchenschrank, hangele mich hoch und hole eine Flasche heraus, die ich kenne. Laufe zurück: „Hier Oma, nimm schnell ein bisschen Hustensaft!“ – Hustensaft, denke ich, hilft gegen alles.

Szene 2: Oma fragt, was ich essen will. Ich sage: „Ein Ei“. Sie: „Ein gekochtes oder ein gebratenes?“ Ich: „Ein gekochtes.“ Als es fertig ist, merke ich, dass ich genau das nicht wollte. Ich schleiche mich in die Toilette und versuche, das Ei hinunterzuspülen. Es gelingt mir nicht, das Ei schwimmt hartnäckig oben. Plötzlich steht Oma hinter mir. Ich fühle mich ertappt. (Später hat sie erzählt, dass sie das Ei gern selbst gegessen hätte, aber für mich aufgehoben hat. Es gab damals noch Lebensmittelmarken)

Szene 3. Ich bin krank. Und sitze mit Oma in einem Krankenhaus. Ich habe seit Tagen nichts gegessen. Es heißt, ich hätte Gelbsucht. Die Oma spricht mit einem Arzt, während ich mich in den Flur schleiche. Da sitzt eine dicke Bäuerin. Um sie herum eine große Kinderschar. Also muss ich auch dorthin und schauen, was es gibt. Die Bauersfrau hat einen Riesensack, aus dem sie mit Schmalz bestrichene Brötchen herausholt und an die Kinder verteilt. Ich nehme mir auch eins und esse es auf. Der Rest ist eine Nebelerinnerung: Oma sieht, dass ich das Brötchen gegessen habe. Ruft die Ärzte. Mehrere Weißkittel zerren mich in einen Raum, auf einen OP-Tisch, stecken mir Schläuche in den Mund, ganz tief hinein. Pumpen mir den Magen aus. – Seltsam, dass mein bisher vierjähriges Leben sich nur zwischen meiner Oma und mir abspielt. Der Opa ist gestorben, als ich ein Jahr alt war.

Die Eltern, meine Mutter, mein Vater, sind nicht vorhanden. Sie studieren – irgendwo. Ich wohne mit Oma in Leipzig in der Straße der Befreiung. In einer großen Stadtvilla, die nur wenige Wohnungen hat. Die Wohnungen sind sehr groß und für mich als kleines Kind undurchschaubar. Nebenan wohnt eine Frau mit ihrer Tochter. Die Tochter ist schon etwas älter als ich. Es heißt, dass diese Frau eine Kriegerwitwe sei. Ich weiß nicht, was das ist, aber die Kriegerwitwe sieht wunderschön aus. Schöner als meine Oma. Vermutlich ist sie jünger. Sie hat ein Eisbärfell. Oder besser: Bei ihr liegt ein Eisbär mit richtigem Kopf vor einem Kamin, in dem ein Feuer brennt. Ich liebe diesen Kamin, sitze stundenlang auf dem Fell und träume. Ich liebe den Eisbär, obwohl ich weiß, dass er tot ist. Die Liebe zum Eisbärfell soll mich ein Leben lang begleiten. Wenn ich mir später Situationen imaginiere, in denen ich mich wohl fühle, liege ich immer auf diesem Eisbärfell. Wahlweise allein, später mit Liebhaber und Rotweinglas. Der Traum ist immer noch in mir. Dafür hat mich ein anderer Traum gottseidank verlassen. Jahrelang träumte ich, dass ich an den Spitzen eines schmiedeeisernen Zaunes hängenbleibe und in die Tiefe stürze. Ein Albtraum, den ich mir nicht erklären konnte. Als ich vor ein paar Jahren das Haus in der Straße der Befreiung in Leipzig, die jetzt anders heißt, besuchte, sah ich meinen Zaun. Und wusste nun, dass es ihn wirklich gibt. Ab sofort träumte ich den Zauntraum nicht mehr.

Der Eisbär ist geblieben, auch die Kriegerwitwe, die ich mir zur Mutter gewünscht hätte. Und ihr wundervolles Rhabarberkompott, das sie aus den Tiefen eines silbernen Gefäßes schöpfte. Sie hatte auch andere Geheimverstecke, in denen ich nach Schokolade aus dem Westen suchen durfte. Zum ersten Mal wünschte ich mir, zu einer anderen Familie zu gehören. Ich wollte Kriegerwitwenkind sein. Mit Kamin und Eisbärfell und anderen Geheimnissen. – Dann sind wir aus Leipzig weggezogen. Meine Eltern waren plötzlich jeden Tag da. Sie hatten fertig studiert und arbeiteten in ihrem ersten Job. Ich ging in den Kindergarten. Meine Oma und mein Vater hassten sich und stritten jeden Tag. „Wie konnte sie nur diesen dahergelaufenen Kommunisten heiraten!“- klagte Oma gern und meinte ihre Tochter. Später hat meine Großmutter uns – und ganz besonders mich – verlassen und zog zurück in ihre alte Heimat. Für mich ging eine Kinderzeit voller Großmutterglück zu Ende. Das wusste ich damals noch nicht. Die neue Zeit mit Mama und Papa war selbstverständlich auch aufregend.

Foto: Mein Großmutter 1929 in Brasilien

Tagesablauf – Mittwoch – Oder – Mit siebzehn hat man noch Träume

4.30 Uhr aufstehen. Meine Träume sind mir heute Nacht zu aufregend. Also: Aus der Traum. – Besser im stillen Zimmer am Laptop sitzen und die letzten Nachtirrlichter auf Facebook lesen. Sohn Nr. 1 eine Bekräftigungsnachricht schicken. Halte durch! Er hat sich viel vorgenommen. Sorgen machen um Sohn 2, viel später am Tag dann telefonieren. Sorgen gemildert, alles nicht so schlimm. Frühstücksbrei essen, meine neueste Erkenntnis auf dem Gebiet der Ernährung. Dann Kaffeetasse mal vier. In die erste ein Löffel Kakao. Soll gute Laune erzeugen. Was ich bestätigen kann, ich mache seit einem knappen Jahr den Selbstversuch und könnte ab und an vor Fröhlichkeit bersten.

Wenn die Umstände danach wären. Später all die wirren Nachrichten, sowohl der Lückenpresse, als auch der alternativen Internetverlautbarungen lesen. Aufregen. Aufregen. Nägel kauen. Und schwören: Nicht mehr so viel lesen! Nicht mehr so viel kauen! Noch ein Kaffee.  Moderationsskript für heute und morgen schreiben und an den Moderator mailen. Haare waschen und an Anna denken.

Die Enkelin kommt um 12.00 Uhr. Wohin gehen wir heute? – In den „Wiener Wald“? – Nein, heute nicht. Heute mal indisch essen. – Auch schön. Neben uns eine Gruppe junger Manager, ok – und Managerinnen -, die sich über die Kosten von Workshops unterhält. (Oder schreibt man da unterhalten?) – Ich überlege, hätt ich in diesem Alter so tödlich Langweiligem interessiert zugehört oder wenigstens so getan? Spüre leichte Aggressionen. Esse schneller. Die Young-Work-Shopper haben’s eilig. Gottseidank. Wir können sitzenbleiben und Pläne schmieden.

Ja, natürlich gehen wir – wie immer mittwochs – in den Pudel-Netto, der ein Schnauzer-Netto ist, aber bei uns eben Pudel heißt. Dort kaufen wir das, was früher Brotbüchsen hieß, retroschick, und ganz viel Joghurt, den ich ebenfalls neu in den Speiseplan einbaue. Ich las kürzlich über Mikroben, die sich im Körper befinden. Sie sollen die Crux sein. Wer die falschen Mikroben hat, kann Diäten ohne Ende exerzieren, es wird nichts nützen. Joghurt ist schonmal ein guter Weg, mikrobiotisch, obwohl der Professor, von dem ich das hab, es auch nicht ganz sicher weiß.

Wer weiß was sicher in diesen unsicheren Zeiten? Wir probieren Parfüme aus – in der grünen Parfümerie. Grausame Düfte von Bulgari und  Jette Joop. Anna liebäugelt neuerdings mit dem Helene-Fischer-Parfüm. Es sei „gar nicht so schlecht“. Puh, Helene Fischer! Ok, ok, ich riskier ’ne Nase. Leider sticht es und verändert sich später noch stechender in etwas Billiges. Besser das neue Lacoste. Anna braucht unbedingt einen Nude-Lipliner, graubräunlich, der neue Hit. Die jungen Mädchen haben damit farblose Lippen und sehen aus, wie die schöne Tatortleiche auf der Pathologen-Pritsche. Meine kleinen Sticheleien nützen natürlich nichts. Tun sie nie. Anna will diese Lippen. Die sind „voll in“.

Wir fotografieren noch „unsere“ Villa, die wir später haben werden. Wir wissen noch nicht, wie sie in unser Leben kommt. Deshalb: Visualisieren. Visualisieren. Visualisieren. Auf der Rückfahrt kleine Diskussion im Auto: Was würden wir tun, wenn wir wüssten, dass wir nur noch eine Woche zu leben haben. Anna sagt: Ich würde alles tun, was ich mir jetzt verbiete! – Erstaunlich. Ich dachte immer, das mache nur ich. Dass Siebzehnjährige sich schon alles verbieten, war mir neu. Was für eine Jugend! Brav und anspruchsvoll. Energisch und karrierebewusst. Was war ich doch für ein dummes Hascherl – damals, als es hieß: Mit siebzehn hat man noch Träume…

Der Toten-Märchenwald oder ein Sonntag im November

Totensonntag. Stiller Sonntag. Grauer, schneeverregneter Sonntag. Du Bleierne Zeit, die mich an Margarethe von Trottas Film denken lässt, an Schwestern, die durch einen düsteren Märchenwald irren, den imaginären Kindermärchenwald – und sich niemals mehr finden. Zu verschieden. Ich denke an meine Großmutter, die mir von so einem Märchenwald vorlas. Ich denke an zwei Ehemänner, die „gegangen“ sind, ich denke an meine Mutter. An meine Freundin Monika, die im letzten Monat „vor der Zeit“ an Krebs starb. Ich denke an den „Witwenwettbewerb“ auf den Friedhöfen – im Kampf um das bestgepflegte Grab. Gestern schien es dort, auf den Friedhöfen, als sei Jahrmarkt im Himmel. Gerüstet wurde für den grauen Sonntag, der heute ist, auf das ein letztes Bunt-Aufgebot von meistliebender Erinnerung zeuge. Ich denke an meinen Vater, der schon mit sechsundvierzig Jahren auf einer einsamen Landstraße auf ein unbeleuchtetes Fahrzeug der damals Sowjetischen Armee auffuhr und der nach zwei Stunden tot war. Ohne Sicherheitsgurt. Der war damals noch nicht üblich. Ein Tod, der mich für Jahre todtraurig zurückließ. Wer kennt sie nicht, heiße wellenförmige Trauer, die uns überfällt, weil noch nicht alles gesagt war, weil das Unerwartete zustieß. Unerbittlich. Kein Gebet, kein Trost. Kein Zurück. Nichts. Heute wieder weine ich still – wenn ich an dieses Kind denke – das im März nicht geboren wird. Auch das ein Tod. Auch das eine Trauer. Eine bittere Fantasie. – Und ich denke an alle jene, die ich liebe. An die, die mein Leben lebenswert machen. An meine Familie, meine Kinder, meine Enkel, meine Freunde. Wir alle sind gekommen, wir bleiben, wir gehen. Manchmal haben wir das Glück, uns verabschieden zu können. Manchmal harren wir zu lange. Manche sind niemals wirklich geboren. Das ist das Leben. Das ist der Tod. Seltsamer November. Dir gehört dieser Tag.

Wie ich einmal in der RTL-Hans-Meiser-Talkshow als Expertin auftrat und Flugangst mich beinahe hinwegraffte

Meine lieben Studienkolleginnen Karin Deuser, Daniela Köppe – nein, nicht mit mir verwandt – und ich haben 1995 ein Buch geschrieben. Ein Extrakt und eine Erweiterung unserer Diplom-Präsentation an der Universität der Künste Berlin 1994: „90-60-90 – Zwischen Schönheit und Wahn“ – so hieß das. Offensichtlich müssen das einige Medienvertreter gelesen haben. Denn: Ab sofort waren wir „Expertinnen“.

Und wie das so ist, wenn man die Expertinnen-Karriere einmal eingeschlagen hat, wird der Experten-Name in einschlägigen Redaktionsverteilern verewigt. Während Karin, eine weitaus bessere Rednerin als ich, wenn es um die Verkündigung unserer Botschaften ging,  bei Spiegel-TV saß, geriet ich in die Fänge der Nachmittags-Talk-Shows. Die erste war bei Hans Meiser, lang, lang ist’s her.

Es ging um Schönheitsoperationen, ein Thema, das wir in unserem Buch nur am Rande und eher philosophisch-soziologisch berührten. Das war den anrufenden Experten-Scouts egal. „Sie machen das schon!“ Ich zierte mich nach allen Regeln der Kunst. Trieb mein Honorar in die Höhe und – sie ließen nicht locker. „Sie machen das schon!“ (Ertappte mich gerade dabei, dass ich „Sie schaffen das schon!“ schreiben wollte). Irgendwann ermattete ich, sagte „ja“ und kaufte mir ein kritisches Buch über Schönheitsoperationen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich noch niemals geflogen und hatte das auch nicht vor. Ich war sehr esoterisch drauf – zu dieser Zeit – und dachte Sätze wie „Der Mensch hat keine Flügel, also soll er auch nicht fliegen“. Meine Welt war ohne Flügel in Ordnung. Dann erhielt ich einen Anruf. Aus Köln-Hürth. Von der Hans-Meiser-Produktionsfirma. „Ihr Flieger ist gebucht, melden Sie sich am Lufthansa-Schalter um 14.00 Uhr in Tegel“ – „Aber ich fliege nicht!“ – rief ich entsetzt – „Ich kann nicht fliegen!“ – „Jeder kann fliegen! Also, es ist alles gebucht, seien Sie pünktlich, Sie werden dann in Köln von einem Fahrer abgeholt“. Sprach es und legte auf.

Ich legte auch auf und ging zu „Karstadt“ und kaufte einen Wintermantel. Und dachte übers Fliegen und Schönheits-OPs nach. Um es kurz zu machen: Ich flog. Und ich trank ein gefühltes Fläschchen Valium, so dass ich beinahe vom Sitz fiel und mir die Spucke aus dem Mund lief – im Flieger. Der Stewart sprach mich an: „Geht’s Ihnen gut?“ „Ja, mir geht’s gut, bin nur bissel gedopt. Sagen Sie, warum sehe ich immer dieselbe Wolke? Stehen wir in der Luft?“ „Haha, Sie sind gut. Wir fliegen in 10.000 Meter Höhe mit 750 Stundenkilometern!“ „Aha“. Ich griff zu meinem Fläschchen und nahm noch einen Schluck.

In Köln wankte ich durch den Flughafen und sah jemanden, der ein Schild mit meinem Namen trug. „Sind Sie Frau Gläser?“ – „Ja“. „Geht’s Ihnen nicht gut?“ „Doch. Bestens. Ich lebe noch!“ – Unverständnis und eine Kopfbewegung in Marschrichtung zum Auto, das uns dann in die Studios nach Hürth fuhr.

In der Garderobe erst einmal stundenlanges Sitzen, dazwischen Schminken, ich erkannte mich kaum wieder, und Begutachtung der anderen Gäste. Die waren in „Opfer“ und „Experten“ unterteilt. Dazu kam das damalige „Gesicht 95 oder 96“. Ich weiß gar nicht mehr, was das für ein Jahr war. Jedenfalls war das „Gesicht“ der Star. Sie hatte Beine, die ungefähr in Höhe meines Nabels endeten, und war sehr gut drauf. Noch lagen Schönheitsoperationen für sie in weiter Ferne. Hofiert und angebetet wurde sie von allen Redaktionsjünglingen, die ihr auf Schritt und Tritt hinterher sabberten.

Plötzlich kam Michael Jackson in die Garderobe. Alles erstarrte. Kurz. Denn sogleich begriff man, wir sind hier in einer Freakshow. Es geht um Schönheitsoperationen. Da war also einer, der schon einige OPs hinter sich hatte, um als M-J-Double zu arbeiten. Dann eine Frau, die in ihrem früheren Leben die Nofretete war und so viele Operationen hinter sich hatte, um dieser Inkarnation zu gleichen, dass fürderhin keiner in Deutschland mehr sein Messer an sie legen wollte. Sie berichtete in der Sendung, dass sie demnächst nach Brasilien ginge, dort blühe das Schönheitsoperationswesen und dort fände sie jemanden, der ihre Selbstwerdung hienieden vollendet.

Eine kleine ältere Frau, wie sich später herausstellte, war sie über siebzig, hatte ihre Operation filmen lassen, in der ihr tatsächlich das gesamte Gesicht abgelöst wurde, straffgezogen und wieder neu angenäht. Nichts für weinerliche Gemüter wie mich. Und dann –  der Superstar. Ein Arzt, der Schönheitsoperationen anbot und natürlich ins Werk setzte, auch die der älteren Dame, und durch die Sendung führte. Gemeinsam mit Hans Meiser. Es war eine gigantische Werbeshow für diesen Chirurgen. Bei insgesamt sechs Sendungen zu unterschiedlichen Themen chirurgischer Verschönerung bzw. Veränderung.

Ich begriff sofort, dass ich als die kritische Expertin vorgesehen war. Sprach wie im Wahn ein paar Sätze. Alles schnell, schnell. Konnte mich später an nichts mehr erinnern. Der Schönheitschirurg gab mir hinterher seine Karte. Das „Gesicht 95“ flog mit mir zurück nach Berlin. Wir betranken uns mit Minisektflaschen, sie erzählte mir von ihren weitreichenden Modelplänen. So vergaß ich mein Valiumfläschchen und landete glücklich. Ganz große Vorsätze: Niemals mehr fliege ich. Niemals mehr geh ich in eine Talkshow. Beides hab ich nicht eingehalten.

Foto: Ich 1995 – ein Bewerbungsfoto, mit dem ich nie einen Job bekommen habe 🙂

Ich will schreiben können wie Peter Hodina

 Irgendwie wollen doch fast alle Schreiber schreiben wie jemand anderes, den sie so viel spannender finden, als sich selbst. Ich möchte schreiben können, wie Peter Hodina.

Peter Hodina ist mein Facebook-Freund. Ich kenne ihn auch persönlich. Man kennt nicht jeden Facebook-Freund persönlich. Aber Peter Hodina kenne ich. Nur kurz. Ein Abend in Berlin. Im Café Einstein, dem originalen. Dort bezahlten wir eine horrende Rechnung fürs Kennenlernen. Wir tauschten unsere jeweiligen Bücher aus. Ich mein kleines bescheidenes. Er sein kleines bescheidenes. Gottseidank schreiben wir so unterschiedlich, wie es unterschiedlicher nicht sein kann. Es kommt kein beißender Neid auf. Aber ich studiere Dich, Hodina!

Ich will schreiben wie Du! Und das – wie ich. Aus der kleinsten Alltagsbeobachtung eine Philosophie machen. Aus den Winzigkeiten des Lebens das herausholen, was sie aufhebenswert macht. Und nicht nur das. Ich will Deinen versteckten Humor – nicht kopieren – vielleicht ein bisschen adaptieren. Ich glaub, ich kann das. Durch exzessives Lesen Deiner literarischen Miniaturen in mir das wecken, was da ist. Vielleicht auch das, was da war. Ich lerne von Dir. Und habe die irre Hoffnung, dass da noch etwas ist, was die Zeit verdeckte.

Und so breche ich eine Lanze – stellvertretend durch meine Ode an Hodina – für all meine Facebook-Freunde, die mein Leben so bereichert haben. Die mein Leben verändert haben. Schön ist es, Menschen kennenzulernen, die man unter anderen Bedingungen, nennen wir sie analog, niemals kennengelernt hätte. Seit 2010 bin ich im viel geschmähten und dennoch geliebten Netzwerk. Ich habe Freundschaften fürs Leben geschlossen, ich habe Freundschaften beendet, die keine waren. Ich habe geliebt, gelitten und gehasst. Ich hab mich beinahe um mein Leben geschrieben. Und bin dann beinahe verstummt.

Die Realität holte mich ein. Peter Hodina lebt in seiner Realität. Die ist selbstverständlich eine andere, als die meine. Heute habe ich von ihm gelernt, dass ich unsere wunderbare Facebook-Welt nicht aufgeben werde. Nicht für das, was sich Realität nennt. Ich habe – wie fast täglich – etwas von ihm gelesen. Ich konnte lachen. Ich konnte mich freuen – über seine unaufdringliche und unerbittliche Weisheit. Ich konnte ihn, wie meist, bewundern. Danke, Peter Hodina, lassen wir uns unsere Facebook-Welt nicht kaputt machen. Dank Dir und all den anderen Freunden, die bleiben.

Peter Hodina ist ein österreichischer Philosoph und Autor. Seine Bücher heißen „Steine und Bausteine“ – davon gibt es mittlerweile I, II und III. Man kann sie kaufen.

Foto: v.l.n.r. Ich und meine Facebook-Freunde Regine Koth Afzelius, Peter Hodina und Sylvia Apfelbaum.