Als wir staatenlos waren und von Ost nach West wechselten – im Gepäck drei Kinder und drei Koffer und sonst nichts

Nein, ich freu mich nicht! Ich möchte nicht schon wieder Geburtstag haben. Morgen ist wieder so ein 15. Juni. Es zählt sich so über die Jahre dahin. Früher, ja früher, da war das noch was. Wie ersehnte ich den 10. herbei. Endlich zwei Zahlen! Wie fieberte ich dem 14. entgegen. Endlich ein Personalausweis, mit dem ich in Erwachsenenfilme gehen konnte, mit meinem Freund! Wir küssten uns zwar nur und es wäre egal gewesen, was da vorn auf der Leinwand läuft. Aber so ein Personalausweis in der DDR, das war etwas vollkommen anderes als heute. Es war der AUSWEIS.

Wir vergötterten dieses blaue Ding und verglichen die Fotos und die Geburtsstädte. Ich hatte Leipzig. Nicht so toll. Meine Mutter hatte ja Rio de Janeiro. Mein Vater Lichtenstein. Dem ich gern ein „ie“ verpasst hätte, denn ohne das „ie“ war es leider nur ein Kaff in Sachsen. Mein erster Ehemann war (noch) in Niederschlesien geboren. Die Stadt hieß Waldenburg. Er liebte es, in Waldenburg geboren zu sein. Als er seinen Personalausweis später erneuern ließ, stand plötzlich – ohne, dass er gefragt wurde – Wałbrzych drin. Er wurde schier wahnsinnig. Was ist das? Ich bin nicht in Wałbrzych geboren! Doch die DDR hatte ab sofort eingeführt, dass die Städte der ehemaligen „Ostgebiete“ in der Sprache der jetzigen Bewohner im Ausweis standen. Und das waren nun einmal die Polen. Ich – damals noch auf DDR-Art politisch korrekt – versuchte ihn zu beruhigen: „Das ist jetzt eine polnische Stadt. Ist doch schön! Bist Du halt in Polen geboren.“ – Ich erspare mir die Antworten. 

Wir waren beim Ausweis. Dem Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik. Man musste ihn ständig bei sich tragen. So stand es drin. Und wehe, wenn man kontrolliert wurde, und das geschah in jungen Jahren oft, und man hatte ihn nicht dabei! Der Blaue war ein kleines Büchlein mit vielen Seiten, falls man mal ins Ausland wollte. Für die Stempel. Manche hatten sogar welche drin. Möglich waren nur Ungarn, Sowjetunion (auf Einladung und mit Visum), Rumänien, Polen, Tschechoslowakei, Bulgarien. Unsere sozialistischen Bruderländer. In den Achtzigern hatten manche einen Stempel aus der Bundesrepublik Deutschland. Besuche bei großen Familienfeiern oder aber privilegierte Künstlerreisen waren vermehrt möglich.

Natürlich nicht für mich. Außer Polen und Tschechei nichts gewesen. Ich wollte ihn los sein, den Blauen. Und ich wurde ihn los. Und tauschte ihn gegen Staatenlosigkeit. Entlassen aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Für 48 Stunden. Mein Mann Peter und ich kämpften uns mit drei Kindern und drei Koffern durch die engen Kontrollgänge des „Tränenpalastes“ in der Friedrichsstraße in Berlin. Meine Freundin Anne brachte uns nach Berlin – mit dem Lada. Sie rief noch: „In 25 Jahren werde ich 60 – dann komm ich Euch besuchen!“ Dann bogen wir um eine Ecke. Die Grenzer schauten finster und kontrollierten unsere Koffer. Wir hatten nichts. Nicht einmal eine Mark. Weder Ost- noch West-Mark. Eine Westberlinerin stand hinter uns und fragte: „Ausgereist? Wo wollt Ihr hin?“ – „Bahnhof Zoo“ – sagte ich mutig.

Und war dann sehr entmutigt, als ich nach Passieren der Grenzkontrollen auf der Westseite des Bahnhofs Friedrichstraße stand. Wir alle, wir fünf, schauten dumm aus der Wäsche: Das sieht doch aus, wie im Osten! – Dreckig, Soldaten mit Hunden und – allerdings besser gekleidete S-Bahnfahrende. Ein Intershop. Ich verstand das nicht. Die freundliche Dame erklärte uns: „Das ist auch Osten. Aber hier dürfen nur Westberliner oder solche wie Ihr hin.“

Ok, ich verstand erst einmal nichts mehr. Wusste aber, dass am Bahnhof Zoo Klaus Jentzsch wartet. (DDR-Menschen auch als Klaus Renft bekannt.) Er wollte uns abholen. Aber wir mussten erst einmal in die S-Bahn steigen und gen Zoologischer Garten fahren. Klaus stand am Bahnsteig. Begeistert über unser Kommen. Und hatte auch gleich einen Journalisten im Schlepptau. Der sollte mich und die kleinen Kinder und die Koffer in die Wohnung von Klaus bringen, der damals beim KaDeWe um die Ecke wohnte. Peter, Robert und Klaus wollten über den Breitscheidplatz laufen. Zwischenstation Europacenter. Das mit dem Mercedesstern. Der Bahnhof Zoo war damals noch so, wie zu Zeiten von Christiane F. und ihren „Kindern vom Bahnhof Zoo“. In den Ecken saßen betrunkene Schnorrer mit Bierbüchsen, vor dem Bahnhof lagen tatsächlich Heroinspritzen. Ich war ein bisschen entsetzt. Den Westen hatte ich mir schöner vorgestellt. Robert brachte später die Nachricht des Tages. „Mutter stell‘ Dir vor, wir sind durch ein Kaufhaus (Europacenter) gelaufen, da fließt ein Fluss!!“ – Für den Fluss konnte man dann schon mal ein paar Tage staatenlos dem Ungewissen entgegenlaufen.

Wir hatten kein Geld, keine Wohnung, keine Ahnung, was werden sollte. Aber wir hatten uns. Und wir hatten Freunde. Nach drei Tagen meldeten wir uns in der Aufnahmestelle Marienfelde in Tempelhof. Dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Ein neuer Ausweis – „vorläufiger, behelfsmäßiger“, wir waren jetzt Westberliner im Alliiertenstatus – war auch dabei. Ich war jung und wusste nicht, was noch alles kommt. Manchmal denke ich – Gottseidank! (Fortsetzung folgt)

Als ich ein Junge war – und dann nicht mehr. Mein heimlicher Weg zum ersten Kuss

Als ich ein Junge war. Da war ich zehn. Da wünschte ich mir den Vornamen „Jura“. Das war irgendwie russisch, klang aber in deutschen Ohren wie ein männlicher oder auch weiblicher Vorname. Ich wollt nicht, dass jemand weiß, was ich bin. Ich wollt ein Junge sein. Besser, ich hätte Jura studiert, aber nein, ich wollte nur so heißen. Russische Jungen, hörte ich, werden ab und an so genannt. Das „a“ klang dennoch weiblich. Ach, ich weiß nicht, was da so in meinem Kopf vorging. Auf jeden Fall lehnte ich die Geschlechtertrennung ab, schor mir die Haare auf beinahe Glatzenniveau und trug Lederhosen. Kurze selbstverständlich. Es war der Sommer, in dem ich elf Jahre alt wurde. Ich wollte ein Junge sein. Ich war sportlich und ich wurde im Schwimmbad aus der Mädchentoilette geworfen, was ich mit teuflischer Lust registrierte. Ich war dennoch in Peter aus meiner Klasse – einer Spezial-Sport-Klasse – verliebt. Und später in Uwe im Kinderferienlager. Der mich zwar enorm kumpelhaft fand, aber die erhofften weiblichen Lockmittel offensichtlich bei mir nicht entdecken konnte. Da war ich halt die, mit der man Pferdestehlen konnte. Mehr nicht. Ich weiblicher Knabe war nicht so sexy wie der-die in der Shakespeare-Komödie „Was ihr wollt“. – Der Umzug in eine andere Stadt bewahrte mich vor weiteren Feinabstimmungen an meiner sozialen Skulptur „Das Mädchen, das ein Junge sein will“. Ich kam in eine neue Klasse, ich war zwölf, es regte sich etwas Unbekanntes in mir. Die Lederhose wurde zu klein und ich ließ mir die Haare wieder wachsen. Ich hatte meinen ersten Freund: Norbert. Das war so aufregend, dass ich den ersten pubertären Ausbruch mit wütenden Tiraden gegen meine Mutter antrat: Ich lass mir das von Dir nicht nehmen! Ich habe jetzt einen Freund! Basta! – Sie sagte wider Erwarten: Was willst Du denn? Ich hab doch gar nichts dagegen! – Komisch. Probleme hatte ich ausnahmsweise mal nicht mit der Mutter, sondern mit Norbert. Ich konnte ihn nicht küssen. Denn ich wollte es richtig machen. Doch wo konnte ich erkunden, wie richtiges Küssen geht? Nirgends. Ich durchwühlte das elterliche Arbeitszimmer und fand am Grunde des Bücherschrankes in einem Versteck ein „Aufklärungsbuch“, das ich aufgeregt und heimlich durchlas. Und ich fand „Die schönsten Abenteuer des Giacomo Casanova“, dessen Name mir bis zu diesem Tag unbekannt war. Ich las auch dieses Buch in meinen Solo-Nachmittagsstunden, wenn die Eltern auf der Arbeit waren. Allerdings war es nicht ganz so hilfreich, wie das „Aufklärungsbuch“, das den Sexualakt nüchtern schilderte, als wäre das etwas notwendigerweise – leider, leider – zu Absolvierendes. Ok, ich war nun informiert. Ich war auch irritiert, weil ich erstmalig feststellte, dass meine Eltern etwas vor mir versteckt hielten. Und weil auch ich erstmalig ein Geheimnis hatte. Ich legte die versteckten Bücher wieder zurück. An den alten Platz. Und irgendwann haben wir es dann „geschafft“. Norbert und ich. Natürlich nur das mit dem „Küssen“. Ich kann mich weder erinnern, ob es am Ende richtig war oder gar gut. Es war. Sonst nichts. Ich war kein Junge mehr. Ich war ein Mädchen. Hatte mittellange Haare und sah schon so gut aus, dass die Jungs unten vor der Tür ständig klingelten. Norbert war der erste, aber nicht der letzte.

Herzens- und Schmerzensmann – mein Sohn Robert Gläser

Mein Sohn Robert Gläser. War immer was Besonderes. Zum Beispiel verweigerte er konsequent sozialistische Beschulung. Und widmete sich lieber dem, was er für richtig hielt. Das hieß zu Beginn „Hexenschuss“, später „L’Attentat“, dann „Reininghaus“ und noch später „Cäsar und die Spieler“. Erst Schlagzeug, dann Bass, auch mal Singen. Robert suchte und suchte. Gründete Bands wie „The Buffdicks“, wie war das großartig, und trat im roten Minirock auf, der auch mal beim „Springen“ auf der Bühne „Dinge freilegte“ (wow). Verrückt, dieses Kind, unbezähmbar, unbezahlbar, unbeirrbar. – Was mir schnell auffiel, war sein einzigartiger Humor. Schon als Zwölfjähriger konnte er alle in seiner Umgebung parodieren, dass wir vor Lachen „ins Essen fielen“. Damals sagten viele: Du musst Schauspieler werden. Aber ihm war das Auswendiglernen von Goethe-Texten zu langweilig oder auch zu überflüssig. Oft hab ich mir Gedanken gemacht – über dieses ungewöhnliche Kind. Oft hab ich mir Sorgen gemacht. Aber – einige Jahre später schenkte er mir meine Enkelin Annamaria und meinen Enkel Mio. Unbedingt zu würdigen – die Mütter. Denn sie haben einen großen Anteil an diesen wunderbaren Kindern. Robert hat einen untrüglichen Familiensinn, der mich manchmal sogar nervt. Immer an Weihnachten möchte er die Familie zusammenhalten und natürlich müssen alle dabei sein. – Er hat mich gelehrt, dass es nichts Wichtigeres gibt, als die Familie. Unsere Familie. Er hat mich gelehrt, dass es egal ist, was Du tust, dass Niederlagen zum Leben gehören, dass wir sie als Chance begreifen können, dass Erfolg immer nur ein kurz währendes Glück ist. Dann geht es weiter. Glück ist fragil. Die Liebe ist ewig. – Ich bin stolz, dass Robert immer wieder dieses Glück und diese Liebe sucht, sie nicht als unerreichbar erklärt und jetzt sein neues Album „Robert Gläser“ herausgebracht hat. Da ist all das enthalten, was ihn umtreibt, was ihn treibt, was ihn hält.

Foto: Robert/Leipzig ca. 1982

Traumfamilien Teil 1 – Explosionen, Hustensaft, Eier und ein ausgepumpter Magen

Frühe Erinnerungen. Meine Oma und ich spielen die Hauptrollen. Meine Oma und ich sitzen vor dem großen Kachelofen. Sie zeigt mir, wie man den heizt. Erklärt und erklärt und hält ein Streichholz in der Hand, schaut nicht mehr auf die Hand, sondern mir ins Gesicht, erklärt und plötzlich schießt ein Feuerpfeil mit lautem Knall nach oben. Die Streichholzschachtel explodiert, weil Oma sie angezündet hat. Sie ist ganz schwarz im Gesicht. Ich renne flugs in die Küche, stelle einen Stuhl an den Küchenschrank, hangele mich hoch und hole eine Flasche heraus, die ich kenne. Laufe zurück: „Hier Oma, nimm schnell ein bisschen Hustensaft!“ – Hustensaft, denke ich, hilft gegen alles.

Szene 2: Oma fragt, was ich essen will. Ich sage: „Ein Ei“. Sie: „Ein gekochtes oder ein gebratenes?“ Ich: „Ein gekochtes.“ Als es fertig ist, merke ich, dass ich genau das nicht wollte. Ich schleiche mich in die Toilette und versuche, das Ei hinunterzuspülen. Es gelingt mir nicht, das Ei schwimmt hartnäckig oben. Plötzlich steht Oma hinter mir. Ich fühle mich ertappt. (Später hat sie erzählt, dass sie das Ei gern selbst gegessen hätte, aber für mich aufgehoben hat. Es gab damals noch Lebensmittelmarken)

Szene 3. Ich bin krank. Und sitze mit Oma in einem Krankenhaus. Ich habe seit Tagen nichts gegessen. Es heißt, ich hätte Gelbsucht. Die Oma spricht mit einem Arzt, während ich mich in den Flur schleiche. Da sitzt eine dicke Bäuerin. Um sie herum eine große Kinderschar. Also muss ich auch dorthin und schauen, was es gibt. Die Bauersfrau hat einen Riesensack, aus dem sie mit Schmalz bestrichene Brötchen herausholt und an die Kinder verteilt. Ich nehme mir auch eins und esse es auf. Der Rest ist eine Nebelerinnerung: Oma sieht, dass ich das Brötchen gegessen habe. Ruft die Ärzte. Mehrere Weißkittel zerren mich in einen Raum, auf einen OP-Tisch, stecken mir Schläuche in den Mund, ganz tief hinein. Pumpen mir den Magen aus. – Seltsam, dass mein bisher vierjähriges Leben sich nur zwischen meiner Oma und mir abspielt. Der Opa ist gestorben, als ich ein Jahr alt war.

Die Eltern, meine Mutter, mein Vater, sind nicht vorhanden. Sie studieren – irgendwo. Ich wohne mit Oma in Leipzig in der Straße der Befreiung. In einer großen Stadtvilla, die nur wenige Wohnungen hat. Die Wohnungen sind sehr groß und für mich als kleines Kind undurchschaubar. Nebenan wohnt eine Frau mit ihrer Tochter. Die Tochter ist schon etwas älter als ich. Es heißt, dass diese Frau eine Kriegerwitwe sei. Ich weiß nicht, was das ist, aber die Kriegerwitwe sieht wunderschön aus. Schöner als meine Oma. Vermutlich ist sie jünger. Sie hat ein Eisbärfell. Oder besser: Bei ihr liegt ein Eisbär mit richtigem Kopf vor einem Kamin, in dem ein Feuer brennt. Ich liebe diesen Kamin, sitze stundenlang auf dem Fell und träume. Ich liebe den Eisbär, obwohl ich weiß, dass er tot ist. Die Liebe zum Eisbärfell soll mich ein Leben lang begleiten. Wenn ich mir später Situationen imaginiere, in denen ich mich wohl fühle, liege ich immer auf diesem Eisbärfell. Wahlweise allein, später mit Liebhaber und Rotweinglas. Der Traum ist immer noch in mir. Dafür hat mich ein anderer Traum gottseidank verlassen. Jahrelang träumte ich, dass ich an den Spitzen eines schmiedeeisernen Zaunes hängenbleibe und in die Tiefe stürze. Ein Albtraum, den ich mir nicht erklären konnte. Als ich vor ein paar Jahren das Haus in der Straße der Befreiung in Leipzig, die jetzt anders heißt, besuchte, sah ich meinen Zaun. Und wusste nun, dass es ihn wirklich gibt. Ab sofort träumte ich den Zauntraum nicht mehr.

Der Eisbär ist geblieben, auch die Kriegerwitwe, die ich mir zur Mutter gewünscht hätte. Und ihr wundervolles Rhabarberkompott, das sie aus den Tiefen eines silbernen Gefäßes schöpfte. Sie hatte auch andere Geheimverstecke, in denen ich nach Schokolade aus dem Westen suchen durfte. Zum ersten Mal wünschte ich mir, zu einer anderen Familie zu gehören. Ich wollte Kriegerwitwenkind sein. Mit Kamin und Eisbärfell und anderen Geheimnissen. – Dann sind wir aus Leipzig weggezogen. Meine Eltern waren plötzlich jeden Tag da. Sie hatten fertig studiert und arbeiteten in ihrem ersten Job. Ich ging in den Kindergarten. Meine Oma und mein Vater hassten sich und stritten jeden Tag. „Wie konnte sie nur diesen dahergelaufenen Kommunisten heiraten!“- klagte Oma gern und meinte ihre Tochter. Später hat meine Großmutter uns – und ganz besonders mich – verlassen und zog zurück in ihre alte Heimat. Für mich ging eine Kinderzeit voller Großmutterglück zu Ende. Das wusste ich damals noch nicht. Die neue Zeit mit Mama und Papa war selbstverständlich auch aufregend.

Foto: Mein Großmutter 1929 in Brasilien

Tagesablauf – Mittwoch – Oder – Mit siebzehn hat man noch Träume

4.30 Uhr aufstehen. Meine Träume sind mir heute Nacht zu aufregend. Also: Aus der Traum. – Besser im stillen Zimmer am Laptop sitzen und die letzten Nachtirrlichter auf Facebook lesen. Sohn Nr. 1 eine Bekräftigungsnachricht schicken. Halte durch! Er hat sich viel vorgenommen. Sorgen machen um Sohn 2, viel später am Tag dann telefonieren. Sorgen gemildert, alles nicht so schlimm. Frühstücksbrei essen, meine neueste Erkenntnis auf dem Gebiet der Ernährung. Dann Kaffeetasse mal vier. In die erste ein Löffel Kakao. Soll gute Laune erzeugen. Was ich bestätigen kann, ich mache seit einem knappen Jahr den Selbstversuch und könnte ab und an vor Fröhlichkeit bersten.

Wenn die Umstände danach wären. Später all die wirren Nachrichten, sowohl der Lückenpresse, als auch der alternativen Internetverlautbarungen lesen. Aufregen. Aufregen. Nägel kauen. Und schwören: Nicht mehr so viel lesen! Nicht mehr so viel kauen! Noch ein Kaffee.  Moderationsskript für heute und morgen schreiben und an den Moderator mailen. Haare waschen und an Anna denken.

Die Enkelin kommt um 12.00 Uhr. Wohin gehen wir heute? – In den „Wiener Wald“? – Nein, heute nicht. Heute mal indisch essen. – Auch schön. Neben uns eine Gruppe junger Manager, ok – und Managerinnen -, die sich über die Kosten von Workshops unterhält. (Oder schreibt man da unterhalten?) – Ich überlege, hätt ich in diesem Alter so tödlich Langweiligem interessiert zugehört oder wenigstens so getan? Spüre leichte Aggressionen. Esse schneller. Die Young-Work-Shopper haben’s eilig. Gottseidank. Wir können sitzenbleiben und Pläne schmieden.

Ja, natürlich gehen wir – wie immer mittwochs – in den Pudel-Netto, der ein Schnauzer-Netto ist, aber bei uns eben Pudel heißt. Dort kaufen wir das, was früher Brotbüchsen hieß, retroschick, und ganz viel Joghurt, den ich ebenfalls neu in den Speiseplan einbaue. Ich las kürzlich über Mikroben, die sich im Körper befinden. Sie sollen die Crux sein. Wer die falschen Mikroben hat, kann Diäten ohne Ende exerzieren, es wird nichts nützen. Joghurt ist schonmal ein guter Weg, mikrobiotisch, obwohl der Professor, von dem ich das hab, es auch nicht ganz sicher weiß.

Wer weiß was sicher in diesen unsicheren Zeiten? Wir probieren Parfüme aus – in der grünen Parfümerie. Grausame Düfte von Bulgari und  Jette Joop. Anna liebäugelt neuerdings mit dem Helene-Fischer-Parfüm. Es sei „gar nicht so schlecht“. Puh, Helene Fischer! Ok, ok, ich riskier ’ne Nase. Leider sticht es und verändert sich später noch stechender in etwas Billiges. Besser das neue Lacoste. Anna braucht unbedingt einen Nude-Lipliner, graubräunlich, der neue Hit. Die jungen Mädchen haben damit farblose Lippen und sehen aus, wie die schöne Tatortleiche auf der Pathologen-Pritsche. Meine kleinen Sticheleien nützen natürlich nichts. Tun sie nie. Anna will diese Lippen. Die sind „voll in“.

Wir fotografieren noch „unsere“ Villa, die wir später haben werden. Wir wissen noch nicht, wie sie in unser Leben kommt. Deshalb: Visualisieren. Visualisieren. Visualisieren. Auf der Rückfahrt kleine Diskussion im Auto: Was würden wir tun, wenn wir wüssten, dass wir nur noch eine Woche zu leben haben. Anna sagt: Ich würde alles tun, was ich mir jetzt verbiete! – Erstaunlich. Ich dachte immer, das mache nur ich. Dass Siebzehnjährige sich schon alles verbieten, war mir neu. Was für eine Jugend! Brav und anspruchsvoll. Energisch und karrierebewusst. Was war ich doch für ein dummes Hascherl – damals, als es hieß: Mit siebzehn hat man noch Träume…

Der Toten-Märchenwald oder ein Sonntag im November

Totensonntag. Stiller Sonntag. Grauer, schneeverregneter Sonntag. Du Bleierne Zeit, die mich an Margarethe von Trottas Film denken lässt, an Schwestern, die durch einen düsteren Märchenwald irren, den imaginären Kindermärchenwald – und sich niemals mehr finden. Zu verschieden. Ich denke an meine Großmutter, die mir von so einem Märchenwald vorlas. Ich denke an zwei Ehemänner, die „gegangen“ sind, ich denke an meine Mutter. An meine Freundin Monika, die im letzten Monat „vor der Zeit“ an Krebs starb. Ich denke an den „Witwenwettbewerb“ auf den Friedhöfen – im Kampf um das bestgepflegte Grab. Gestern schien es dort, auf den Friedhöfen, als sei Jahrmarkt im Himmel. Gerüstet wurde für den grauen Sonntag, der heute ist, auf das ein letztes Bunt-Aufgebot von meistliebender Erinnerung zeuge. Ich denke an meinen Vater, der schon mit sechsundvierzig Jahren auf einer einsamen Landstraße auf ein unbeleuchtetes Fahrzeug der damals Sowjetischen Armee auffuhr und der nach zwei Stunden tot war. Ohne Sicherheitsgurt. Der war damals noch nicht üblich. Ein Tod, der mich für Jahre todtraurig zurückließ. Wer kennt sie nicht, heiße wellenförmige Trauer, die uns überfällt, weil noch nicht alles gesagt war, weil das Unerwartete zustieß. Unerbittlich. Kein Gebet, kein Trost. Kein Zurück. Nichts. Heute wieder weine ich still – wenn ich an dieses Kind denke – das im März nicht geboren wird. Auch das ein Tod. Auch das eine Trauer. Eine bittere Fantasie. – Und ich denke an alle jene, die ich liebe. An die, die mein Leben lebenswert machen. An meine Familie, meine Kinder, meine Enkel, meine Freunde. Wir alle sind gekommen, wir bleiben, wir gehen. Manchmal haben wir das Glück, uns verabschieden zu können. Manchmal harren wir zu lange. Manche sind niemals wirklich geboren. Das ist das Leben. Das ist der Tod. Seltsamer November. Dir gehört dieser Tag.

Wie ich einmal in der RTL-Hans-Meiser-Talkshow als Expertin auftrat und Flugangst mich beinahe hinwegraffte

Meine lieben Studienkolleginnen Karin Deuser, Daniela Köppe – nein, nicht mit mir verwandt – und ich haben 1995 ein Buch geschrieben. Ein Extrakt und eine Erweiterung unserer Diplom-Präsentation an der Universität der Künste Berlin 1994: „90-60-90 – Zwischen Schönheit und Wahn“ – so hieß das. Offensichtlich müssen das einige Medienvertreter gelesen haben. Denn: Ab sofort waren wir „Expertinnen“.

Und wie das so ist, wenn man die Expertinnen-Karriere einmal eingeschlagen hat, wird der Experten-Name in einschlägigen Redaktionsverteilern verewigt. Während Karin, eine weitaus bessere Rednerin als ich, wenn es um die Verkündigung unserer Botschaften ging,  bei Spiegel-TV saß, geriet ich in die Fänge der Nachmittags-Talk-Shows. Die erste war bei Hans Meiser, lang, lang ist’s her.

Es ging um Schönheitsoperationen, ein Thema, das wir in unserem Buch nur am Rande und eher philosophisch-soziologisch berührten. Das war den anrufenden Experten-Scouts egal. „Sie machen das schon!“ Ich zierte mich nach allen Regeln der Kunst. Trieb mein Honorar in die Höhe und – sie ließen nicht locker. „Sie machen das schon!“ (Ertappte mich gerade dabei, dass ich „Sie schaffen das schon!“ schreiben wollte). Irgendwann ermattete ich, sagte „ja“ und kaufte mir ein kritisches Buch über Schönheitsoperationen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich noch niemals geflogen und hatte das auch nicht vor. Ich war sehr esoterisch drauf – zu dieser Zeit – und dachte Sätze wie „Der Mensch hat keine Flügel, also soll er auch nicht fliegen“. Meine Welt war ohne Flügel in Ordnung. Dann erhielt ich einen Anruf. Aus Köln-Hürth. Von der Hans-Meiser-Produktionsfirma. „Ihr Flieger ist gebucht, melden Sie sich am Lufthansa-Schalter um 14.00 Uhr in Tegel“ – „Aber ich fliege nicht!“ – rief ich entsetzt – „Ich kann nicht fliegen!“ – „Jeder kann fliegen! Also, es ist alles gebucht, seien Sie pünktlich, Sie werden dann in Köln von einem Fahrer abgeholt“. Sprach es und legte auf.

Ich legte auch auf und ging zu „Karstadt“ und kaufte einen Wintermantel. Und dachte übers Fliegen und Schönheits-OPs nach. Um es kurz zu machen: Ich flog. Und ich trank ein gefühltes Fläschchen Valium, so dass ich beinahe vom Sitz fiel und mir die Spucke aus dem Mund lief – im Flieger. Der Stewart sprach mich an: „Geht’s Ihnen gut?“ „Ja, mir geht’s gut, bin nur bissel gedopt. Sagen Sie, warum sehe ich immer dieselbe Wolke? Stehen wir in der Luft?“ „Haha, Sie sind gut. Wir fliegen in 10.000 Meter Höhe mit 750 Stundenkilometern!“ „Aha“. Ich griff zu meinem Fläschchen und nahm noch einen Schluck.

In Köln wankte ich durch den Flughafen und sah jemanden, der ein Schild mit meinem Namen trug. „Sind Sie Frau Gläser?“ – „Ja“. „Geht’s Ihnen nicht gut?“ „Doch. Bestens. Ich lebe noch!“ – Unverständnis und eine Kopfbewegung in Marschrichtung zum Auto, das uns dann in die Studios nach Hürth fuhr.

In der Garderobe erst einmal stundenlanges Sitzen, dazwischen Schminken, ich erkannte mich kaum wieder, und Begutachtung der anderen Gäste. Die waren in „Opfer“ und „Experten“ unterteilt. Dazu kam das damalige „Gesicht 95 oder 96“. Ich weiß gar nicht mehr, was das für ein Jahr war. Jedenfalls war das „Gesicht“ der Star. Sie hatte Beine, die ungefähr in Höhe meines Nabels endeten, und war sehr gut drauf. Noch lagen Schönheitsoperationen für sie in weiter Ferne. Hofiert und angebetet wurde sie von allen Redaktionsjünglingen, die ihr auf Schritt und Tritt hinterher sabberten.

Plötzlich kam Michael Jackson in die Garderobe. Alles erstarrte. Kurz. Denn sogleich begriff man, wir sind hier in einer Freakshow. Es geht um Schönheitsoperationen. Da war also einer, der schon einige OPs hinter sich hatte, um als M-J-Double zu arbeiten. Dann eine Frau, die in ihrem früheren Leben die Nofretete war und so viele Operationen hinter sich hatte, um dieser Inkarnation zu gleichen, dass fürderhin keiner in Deutschland mehr sein Messer an sie legen wollte. Sie berichtete in der Sendung, dass sie demnächst nach Brasilien ginge, dort blühe das Schönheitsoperationswesen und dort fände sie jemanden, der ihre Selbstwerdung hienieden vollendet.

Eine kleine ältere Frau, wie sich später herausstellte, war sie über siebzig, hatte ihre Operation filmen lassen, in der ihr tatsächlich das gesamte Gesicht abgelöst wurde, straffgezogen und wieder neu angenäht. Nichts für weinerliche Gemüter wie mich. Und dann –  der Superstar. Ein Arzt, der Schönheitsoperationen anbot und natürlich ins Werk setzte, auch die der älteren Dame, und durch die Sendung führte. Gemeinsam mit Hans Meiser. Es war eine gigantische Werbeshow für diesen Chirurgen. Bei insgesamt sechs Sendungen zu unterschiedlichen Themen chirurgischer Verschönerung bzw. Veränderung.

Ich begriff sofort, dass ich als die kritische Expertin vorgesehen war. Sprach wie im Wahn ein paar Sätze. Alles schnell, schnell. Konnte mich später an nichts mehr erinnern. Der Schönheitschirurg gab mir hinterher seine Karte. Das „Gesicht 95“ flog mit mir zurück nach Berlin. Wir betranken uns mit Minisektflaschen, sie erzählte mir von ihren weitreichenden Modelplänen. So vergaß ich mein Valiumfläschchen und landete glücklich. Ganz große Vorsätze: Niemals mehr fliege ich. Niemals mehr geh ich in eine Talkshow. Beides hab ich nicht eingehalten.

Foto: Ich 1995 – ein Bewerbungsfoto, mit dem ich nie einen Job bekommen habe 🙂

Ich will schreiben können wie Peter Hodina

 Irgendwie wollen doch fast alle Schreiber schreiben wie jemand anderes, den sie so viel spannender finden, als sich selbst. Ich möchte schreiben können, wie Peter Hodina.

Peter Hodina ist mein Facebook-Freund. Ich kenne ihn auch persönlich. Man kennt nicht jeden Facebook-Freund persönlich. Aber Peter Hodina kenne ich. Nur kurz. Ein Abend in Berlin. Im Café Einstein, dem originalen. Dort bezahlten wir eine horrende Rechnung fürs Kennenlernen. Wir tauschten unsere jeweiligen Bücher aus. Ich mein kleines bescheidenes. Er sein kleines bescheidenes. Gottseidank schreiben wir so unterschiedlich, wie es unterschiedlicher nicht sein kann. Es kommt kein beißender Neid auf. Aber ich studiere Dich, Hodina!

Ich will schreiben wie Du! Und das – wie ich. Aus der kleinsten Alltagsbeobachtung eine Philosophie machen. Aus den Winzigkeiten des Lebens das herausholen, was sie aufhebenswert macht. Und nicht nur das. Ich will Deinen versteckten Humor – nicht kopieren – vielleicht ein bisschen adaptieren. Ich glaub, ich kann das. Durch exzessives Lesen Deiner literarischen Miniaturen in mir das wecken, was da ist. Vielleicht auch das, was da war. Ich lerne von Dir. Und habe die irre Hoffnung, dass da noch etwas ist, was die Zeit verdeckte.

Und so breche ich eine Lanze – stellvertretend durch meine Ode an Hodina – für all meine Facebook-Freunde, die mein Leben so bereichert haben. Die mein Leben verändert haben. Schön ist es, Menschen kennenzulernen, die man unter anderen Bedingungen, nennen wir sie analog, niemals kennengelernt hätte. Seit 2010 bin ich im viel geschmähten und dennoch geliebten Netzwerk. Ich habe Freundschaften fürs Leben geschlossen, ich habe Freundschaften beendet, die keine waren. Ich habe geliebt, gelitten und gehasst. Ich hab mich beinahe um mein Leben geschrieben. Und bin dann beinahe verstummt.

Die Realität holte mich ein. Peter Hodina lebt in seiner Realität. Die ist selbstverständlich eine andere, als die meine. Heute habe ich von ihm gelernt, dass ich unsere wunderbare Facebook-Welt nicht aufgeben werde. Nicht für das, was sich Realität nennt. Ich habe – wie fast täglich – etwas von ihm gelesen. Ich konnte lachen. Ich konnte mich freuen – über seine unaufdringliche und unerbittliche Weisheit. Ich konnte ihn, wie meist, bewundern. Danke, Peter Hodina, lassen wir uns unsere Facebook-Welt nicht kaputt machen. Dank Dir und all den anderen Freunden, die bleiben.

Peter Hodina ist ein österreichischer Philosoph und Autor. Seine Bücher heißen „Steine und Bausteine“ – davon gibt es mittlerweile I, II und III. Man kann sie kaufen.

Foto: v.l.n.r. Ich und meine Facebook-Freunde Regine Koth Afzelius, Peter Hodina und Sylvia Apfelbaum.

Haben wir eigentlich eine Chance? – Eigentlich – nicht! – Manchmal muss es eben – Lachen sein.

Zwei junge Männer – vielleicht Kreative oder Jungunternehmer – stehen vor bodentiefen Fenstern in einem Loft. Gleich wird ein „Meeting“ oder eine „Präsentation“ beginnen. „Haben wir eigentlich eine Chance?“ – fragt der eine den anderen. „Eigentlich – nicht! – antwortet der. Und sie lachen und stoßen an. Natürlich mit Mumm. Denn „Manchmal muss es eben Mumm“ sein. Eine meine Lieblingsfernseh-Werbungen der letzten zwanzig Jahre.

Manchmal muss Mumm. Alliteration. Kann man sich merken. Und – viel wichtiger – sich damit identifizieren. Wie oft steht man vor schier unlösbaren Herausforderungen. Wie oft weiß man schon vorher, dass es nicht klappen wird, was man so sehr ersehnt. Wie oft findet man sich in der Verlierersituation geschmäht, allein gelassen und – muss damit umgehen. Was bleibt, sind Vorwürfe und Resignation. Oder Hoffen und Beharren. Oder eben – Lachen. Dazwischen das Lachen. Lachen ist es, was uns befreit. Wenn wir jetzt nicht lachen, was dann? Weinen? Sich die Haare raufen? Sich zerfleischen? In Depressionen verfallen? Alles Möglichkeiten. Alles schon probiert. Und? Hat sich etwas geändert? Hat sich etwas zum „Guten“ bewegt, wenn wir depressiv, wenn wir in banger Erwartung wie die Kaninchen vor der Schlange hockten? Wenn wir alles hinwarfen? Nein. Also Lachen.

Ich habe in den letzten Jahren das Lachen schätzen gelernt. Und gleich mal nachgeschaut, warum das so sein könnte: Lachen ist nicht nur lustig und befreiend. Lachen ist auch gesund fürs Immunsystem und noch für so allerlei. Wenn wir Menschen lachen, werden in der Gesichtsregion 17, und am ganzen Körper 80 Muskeln betätigt. Die Augenbrauen heben sich, die Nasenlöcher weiten sich, der Jochbeinmuskel zieht die Mundwinkel nach oben, die Augen verengen sich zu Schlitzen, der Atem geht schneller, Luft schießt mit bis zu 100 km/h durch die Lungen und die Stimmbänder versetzen sich in Schwingung. Männer lachen mit mindestens 280 Schwingungen pro Sekunde, Frauen sogar mit 500. (Haha, Frauen lachen anscheinend intensiver!) Das Zwerchfell bewegt sich rhythmisch. Im Gegensatz zu all den oberen gespannten Muskeln, erschlaffen die Bein-Muskeln – wir kippen nach vorn – vor Lachen. Da entspannt auch schon mal die Blasenmuskulatur. Wir pinkeln uns vor Lachen in die Hose.

Körperliche und seelische Erholung pur – durch Lachen. Nicht umsonst verdienen sich heutzutage einige Leute ihr Geld mit sogenannten Lachtherapien. Bären können übrigens nicht lachen. Und Ratten – die können es, wie ich vor zehn Jahren in einem „Welt“-Artikel las. Komisch ist, dass diese segensreichen Lach-Gesundheitsleistungen immer eintreten, egal, worüber wir lachen. I

ch kann mich erinnern, dass ich einmal mit einem Freund in München in einem Kabarett war. Das Programm war so – nun nennen wir es – grauenhaft – dass wir ununterbrochen lachen mussten. Wir lachten über die Kaskaden an schlechten Texten. Und auch darüber, mit welcher Emphase sie vorgetragen wurden. Mein Freund ärgerte sich dann auf dem Nachhauseweg über den hohen Eintrittspreis, den wir dafür gezahlt hatten. Ich aber sagte: Wir haben den ganzen Abend gelacht. Ist doch egal, worüber! Das Gefühl des Lachens tat genauso gut, als hätten wir über etwas vermeintlich „Wertvolleres“ gelacht.

Ich hab mir für diese seltsame Zeit, in der wir uns gerade befinden, vorgenommen, noch mehr zu lachen, als ich es ohnehin schon tue. Es ist gesund, es macht mehr Spaß, als depressiv zu sein, und – es kostet nichts. Wir haben immer eine Wahl. Ich wähle DAS LACHEN. Auch, wenn’s manchmal schwerfällt.

Wie ich zum ersten Mal prokrastinierte, aber noch nicht wusste, was das ist und damit die Einheitspartei entzückte und fiel – in bodenlose Peinlichkeit

Ich war 17. Hatte noch Träume und einen Freund. Ich ging noch zur Schule und die Partei – die einzige wahre sozialistische Einheitspartei der DaDaEr – hatte irgendeinen Geburtstag. In meiner Erweiterten Oberschule (Gymnasium) wurde ein großer Wettbewerb ausgerufen. Alle Schüler sollten nicht nur, alle mussten teilnehmen. Das Thema: „Der Geburtstag unserer Partei“. Ein runder. Schreibt einen Aufsatz, eine Reportage oder ein Gedicht. Ihr habt ein halbes Jahr Zeit. Dann ist Abgabe. Nicht mitmachen geht nicht.

Ach, ein halbes Jahr Zeit. Ich vergaß den Wettbewerb. Es gab ja so viel interessantere Dinge. Ich war verliebt. Ich belegte einen Schreibmaschinenkurs in der Volkshochschule. Ich schlenderte fast täglich mit meiner Freundin –  hin zur Marietta-Bar, dem Szenetreff der Stadt. Und weil ich mir – als Schülerin – so jung und dumm vorkam, stellte ich mich überall als Studentin vor. Der Sommer verging mit Motorradfahren und Strandherumliegen, mit Freund oder bester Freundin. Schule und Partei waren vergessen.

Herbst. Es kam der Tag, an dem unser Deutschlehrer sagte: „Morgen ist Abgabetermin“. – Wofür? – fragte ich. – „Na, Euer Wettbewerbsbeitrag zum Jahrestag der Partei. Ich nehme doch an, Ihr habt das über den Sommer erledigt.“ – Ich sagte nichts, ging nach Hause und überlegte, einen Aufsatz zu schreiben. Aber was und worüber?

Ich hätte erzählen können, wie meine Mutter eines Tages ihr „Dokument“ (den Parteiausweis) in der Küche suchte und darüber schier wahnsinnig wurde. Mit hochrotem Gesicht und wirren Haaren alle Schubladen aufriss und immerzu schrie: „Wo ist mein Dokument? Wo ist mein Dokument?“- Ich fragte sie, ob man ihr nicht einfach ein neues ausstellen könne. Was sie verneinte. „Das gibt ein Parteiverfahren! Da kann ich ausgeschlossen werden! Man darf sein Parteidokument nicht verlieren!“ – „Findest Du diese Partei nicht etwas grausam, liebe Mutter, wenn sie eine normal menschliche Verfehlung, nämlich etwas zu vergessen oder nicht wieder zu finden, so hart bestraft?“

Ich wusste, dass ein Ausschluss aus der geliebten Partei für sie einem Todesurteil und republiklebenslänglicher Acht gleichkam. „Wie kannst Du so etwas sagen! Diese Partei ist alles für mich! Sie ist mein Leben! – Mmh, ich hätte mir ja gewünscht, dass vielleicht meine Schwester und ich oder mein Vater ihr Leben gewesen wären. Doch es war die Partei. Später noch mehr, als zu dieser Zeit. Oder hatte ich das nur erstmalig bemerkt?

Nun ja. Die Partei war etwas sehr Wichtiges in diesem Land. So viel hatte ich schon kapiert. Nun sollte ich ein Loblied singen. Dieses Mutter-Erlebnis konnte ich natürlich nicht in Aufsatzform gießen. Dann wäre ich vielleicht von der Schule geflogen. Es gab läppischere Anlässe dafür. Also saß ich an diesem Abend und schaute erst einmal in die Glotze, selbstverständlich Ost-Fernsehen, etwas anderes erlaubte meine Mutter nicht, dann telefonierte ich mit meiner Freundin und erfuhr, dass sie schon längst ihren Aufsatz fertig hatte.

Der Abend verging und ich fragte meine Mutter: „Könntest Du mir einen Aufsatz über die Partei schreiben?“ „Elisabeth, Du wirst das doch wohl allein können und wenn es ein Gedicht ist!“ – Ein Gedicht! Das war es. Ich schrieb ein Gedicht. Es dauerte fünf Minuten. Einen Schmachtfetzen, der mir zwar ein bisschen peinlich war, aber was soll’s. Abgeben. Und durch.

Leider erfuhr ich zwei Wochen später, dass ich den Wettbewerb mit meinem Schnellschuss gewonnen hatte. Sieg und Fall – in bodenlose Verwirrtheit. Ich gewann also mit dem Verzweiflungsprodukt meiner Faulheit einen Wettbewerb, an dem ungefähr 700 bis 800 Schüler teilgenommen hatten. Man, das war so abgrundtief peinlich. Partei war doch uncool! (Würde ich heute sagen)

Das Schlimmste stand mir noch bevor. Eine Art Feierstunde, in der die ersten drei Plätze ausgezeichnet wurden und mein „Gedicht“ von einem total unsexy-braven Schüler mit einer braunen Strickjacke vorgetragen wurde. Und es kam schlimmer: Mein Gedicht mit meinem Foto wurde in der größten Zeitung – der Bezirkszeitung – abgedruckt. Also, da es nun jeder wusste, konnte ich nicht mehr zu meinem Schreibmaschinenkurs, für eine Weile nicht mehr in die geliebte Marietta-Bar, den Szenetreff, denn die wussten ja jetzt, dass ich erst in der 11. Klasse war und Schmachtgedichte auf die Partei schrieb. Bis heute kann ich die obere Zahlenreihe nicht blind schreiben. Mein „Preis“ für meine erste Leistung nach überlanger Prokrastination war ein Kugelschreiberset.