Februar 2021. Neben unserem großen C-Problem ist es auch noch klirre kalt. Das Land ist doppelt entsetzt. Wie kann es nur im Winter einen Winter geben! Sollte nicht ein ewiger Sommer werden?
Wenn es dann so kalt ist und noch dazu im Februar, denke ich an unsere DDR-Winterferien – immer im Februar. Drei lange Wochen, in denen die Eltern meist arbeiteten. Also wurden wir zu den Omas geschickt. Als ich noch klein war, bettelte ich immer, nur nicht zur bösen Oma fahren zu müssen. Denn ich hatte die böse Oma und die gute. Die gute war die, mit der ich stets die vielen Verwandten besuchte. Wenn ich begriffen habe, was Verwandte sind, dann durch sie. Tante Clara und Onkel Karl, Tante Manni und Onkel Franz, die im Lotto gewonnen hatten und selbst einen Lottoladen betrieben. Oha, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, meinte die Oma. Das Schlimmste, sie hatten meiner Mutter und ihrer Schwester nichts abgegeben! Das hat die Oma nicht verziehen, das fand sie schäbig. Die anderen Cousins und Cousinen erhielten alle einen Anteil am Lottoglück. Schade, dass ich nie mehr erfahren werde, warum die sich alle nicht wirklich grün waren.
Da sind viele Geschichten, die für immer verschwunden sind. Tante Elli mit den sieben Kindern und diesem brummigen sympathischen Mann. Ich habe mich bei ihnen wohl gefühlt und auch wieder nicht. Weil es mir ein bisschen zu schmutzig war. Aber wenn es selbst gesammelte Pilze gab, war ich jedes Mal begeistert, obwohl sie nicht wirklich sauber geputzt waren, wie die Oma meinte. Bei ihr sahen die gebratenen Pilze weiß aus, bei Tante Elli waren sie eher schwarzgrau. Aber mit einer Scheibe Brot einfach wunderbar. Auf die eine Tante hatte die Oma Wut, wegen Lotto, die andere war in ihrer Haushaltsführung zu schlampig. Eine weitere Tante war geizig. Sehr, sehr geizig. Die nächste scheinheilig. Sehr, sehr scheinheilig. Aber wir besuchten sie. Jedes Wochenende. Der Reihe nach. Besonders Weihnachten und bis in den kalten Erzgebirgsfebruar hinein war das sehr anstrengend.
Ich musste bei jeder Tante deren Stollen-Kreation kosten und nach Möglichkeit auch aufessen. Butter triefende Scheiben, bei der fünften Tante drehte sich mir der Magen um. So kurz nach dem Krieg und mit noch nicht gefüllten Supermärkten, sondern einer Mangelwirtschaft – war so ein Stollen der Beweis von Großzügigkeit und Reichtum. Also viel Butter, viele Zutaten, sehr viele Kalorien. Ich war ein braves Mädchen und mümmelte es in mich hinein, während ich mich umschaute.
Da gab es die Hochzeitsbilder an den Wänden, die Deckchen, die weiße Tischdecke, das Vertiko. Die seltsam riechenden alten Damen – und Herren – und die Nippes überall. Die Kissen, bestickt und das gute Sofa, auf dem nie jemand saß. Die gute Stube. Die Küchen mit Kochmaschinen und Ausguss und die Gespräche. Über die Nachbarn, früher, den Krieg, die Gefallenen, die Kinder, die in die neue Zeit starteten. In den winzigen Schlafzimmern mit Eisblumenfenstern die kaltwarmen Federbetten. Die Kissen mit Lochstickerei. Die Kachelöfen. Die knarrenden Dielen. Bohnerwachsgeruch. Dazu der geheimnisvolle große Kleiderschrank der Oma mit Hüten und Kleidern aus ihren „besten Zeiten“. Die passten ihr nicht mehr. Aber mir. Wenn ich sie mit Gürteln zusammenhielt.
Und über allem der heilige Schein des Erzgebirges.
Alles in allem war es eine schöne Kindheit in diesen stillen Wintern. Mit Schneedurchmarsch am Hauseingang, links und rechts größer als ich. Ohne Angst vor Spielunfällen. Vor denunziatorischen Nachbarn. Vor Lebensmittelunverträglichkeiten.
Ich wurde immer für die Tochter der Schwester meiner Mutter gehalten, weil ich ihr ähnlicher sah, als meiner Mutter. Und irgendwann fuhr ich dann wieder in die sozialistische Stadt. Das Erzgebirge blieb als ewige Sehnsucht zurück.
Foto: Meine Großmutter mit ihren zwei Töchtern, die beim Lotto leer ausgingen…