19. Sep 2020

Mein Vater

Er wäre heute 90 Jahre alt geworden. Ich hätte ihm das zugetraut, hatte er doch beispielsweise mit Mitte vierzig außer einer Plombe – wie das damals hieß – noch vollständig erhaltene Zähne ohne Fehl und Tadel.

Er war gesund, intelligent und karrierebewusst. So war er einer der jüngsten Professoren der DDR – mit 36 Jahren wurde er ordentlicher Professor an der damaligen Technischen Hochschule Magdeburg, heute Universität Magdeburg. Immerhin nicht in einem Geschwätzfach, sondern in einem Fach, das heute zu MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) gehört. Er beschäftigte sich schon früh mit Kybernetik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sein Wunsch war, im Alter ein großes Buch über die Geschichte der Technik zu schreiben. Auch war er – wie ich – philosophisch interessiert, also kein Fachidiot.

Er entstammte einer Arbeiterfamilie, wie man so gern in der DDR schrieb, wenn es um einen gehätschelten Funktionär ging. Einer Arbeiterfamilie anzugehören, war sozialistischer Adel. Ich vermute, heute ist das nicht mehr so, aber das ist ein andres Kapitel. Mein Vater entstammte also einer Arbeiterfamilie, wobei man munkelt, dass sein Vater – den ich nicht mehr kennengelernt habe – schon an einem Schreibtisch saß. War er ein Funktionär der Arbeiterpartei, der mein Vater mit 16 Jahren beitrat? Der Kommunistischen Partei Deutschlands, die dann mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Osten bzw. der Sowjetisch Besetzten Zone fusionierte? Das kann ich leider nicht mehr eruieren. Egal: Sein Vater und auch mein Vater waren Mitglied der Partei, die immer recht hatte, im späteren Experimentiergebiet der Sozialisten, das sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Und mein Vater machte alles richtig. So heißt das heute, wenn man „oben“ landet, ohne vorher gewusst zu haben, dass man „alles richtig“ macht.

Kleine Episode am Rande: Mein Vater war wohl zeitlebens darüber glücklich, eine so schöne Frau erobert zu haben. Meine Mutter. Deren Eltern eher bürgerlich-konservativ orientiert waren. Als meine Oma, die Mutter meiner Mutter, erstmalig zur Vorstellung in der anderen Familie, der meines Vaters antrat (die Kinder „mussten“ heiraten, denn meine Mutter war schwanger), ging sie in der engen Wohnung der Eltern meines Vaters noch einmal aufs Klo, um sich frisch zu machen. Für den großen Auftritt. Ein Bad gab es nicht, es war also ungewohnt eng dort. Die Legende geht so, dass meine Oma mit Hut und Handtasche, wie sie nun einmal immer offiziell auftrat, in die Arbeiterwohnküche schritt, aber ihren Rock aus Versehen mit dem Schlüpfer verbandelt hatte, so dass die Beine frei waren. Meine Mutter eilte wie der Blitz herbei und riss den Rock aus dem Schlüpfer. Die verblüffte Familie meines Vaters schaute diskret und verzog keine Miene. Immerhin.


Ich weiß nicht, ob mein Vater ein guter Vater war. Doch ich will es gern glauben. Auf jeden Fall habe Ich ihn mehr geliebt, als meine Mutter. Obwohl er mich fast täglich kritisierte. Was mich vermutlich zu Höchstleistungen anspornte. Ich sollte auch Professorin werden und war auf dem besten Weg dahin, als ich während meines Philosophiestudiums plötzlich den Glauben an die sozialistische Idee verlor – oder hatte ich erstmalig selbständig gedacht? Und das war gar nicht gut, in den Augen meiner Eltern. Als ich zwangsweise exmatrikuliert wurde an der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig, versuchte mein Vater, das zu verhindern, indem er beim Rektor vorsprach, ohne dass ich das wusste. Ich erfuhr es erst später. Er hielt, nachdem ich mit meiner Mutter heillos verstritten war, heimlich den Kontakt zu mir. Und als er mit 46 Jahren starb, durch einen Autounfall – brach für mich eine Welt zusammen. Mindestens ein Jahr lang litt ich unter ständigen Heulanfällen und ich wollte es einfach nicht akzeptieren, dass er nicht mehr da war.

Heute bin ich viel älter, als er war, als er starb. Ich denke darüber nach, wie ich ihn wohl heute fände, wie ich ihn als Person einordnen würde. Ob ich ihn immer noch für so superschlau halten würde, wie damals. Wie gern führte ich noch einmal ein Gespräch mit ihm. Ein Gespräch auf Augenhöhe mit meinem heutigen Verstand und der langen Lebenserfahrung. Ich bin jetzt zwanzig Jahre älter als er. Schon seltsam.

Foto: Passbild meines Vaters – kurz vor seinem Tod.


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