Es war nicht alles schlecht. Die „Prinzen“ haben es gesungen. Und sie meinten – damals in der DDR. Ja stimmt, wir hatten uns irgendwie alle lieb. Was kein Wunder ist, wenn man gemeinsam nach allen Richtungen an seine Grenzen stößt. Aber darüber dachten wir nicht Tag und Nacht nach. Wir hatten andere Probleme. Zum Beispiel Klamotten. Es war ein Graus, was da so hing, in den Läden der staatlichen Handelsorganisation (HO) oder des genossenschaftlichen KONSUMs, den wir auf der ersten Silbe betonten.
Wir waren jung und mit unserer Selbstdarstellung beschäftigt. Es gab die mit der Westverwandtschaft. Die brauchten nur bestellen. Dann kamen die Pakete. Sie waren die Glücklichen und die Totschicken. Sie gaben den Ton an und wir – nicht mit Westverwandten Gesegneten – hechelten hinterher. Gut hatten es auch die mit Omas, die schneidern konnten. Oder die, die selbst nähten, falls sie eine Nähmaschine hatten. Auch Nähmaschinen gab’s nicht einfach so. Ich erinnere mich, dass ich in der Beatles-Hochphase – ja, wir haben das mitbekommen – unbedingt schwarze Kniestrümpfe wollte. Es gab aber nur bunte – ganz scheußlich – oder für sonntags die Weißen. Die habe ich schwarz gefärbt. Dann wurden lange weiße Strümpfe Mode. Die Nachbarstocher, immer in Westklamotten, trug sie. Woher weiße Strümpfe nehmen? Ich kaufte mir OP-Strümpfe in einem Reform-Sanitäts-Laden. Später färbte ich Strümpfe rot. Und lief wie ein Storch herum. Dazu ein weißer minikurzer Trenchcoat, ich weiß nicht mehr, wo der her war, und eine weiße Baskenmütze, aus der vorn nur eine einzige Locke lugte. Ich trug Lederschlipse von meinem Vater. Schlaghosen, die wir aus engen Hosen schneiderten, indem wir sie an der Seite aufschnitten und ein anderes Stück Stoff einsetzten. Und einen dunkelblauen Silastik-Rollkragenpullover, den meine Oma aus dem Westen mitgebracht hatte.
Von diesem Silastik-Rollkragenpullover, ja so hieß das damals, war ich so fasziniert, dass ich ihn nicht mehr ausziehen wollte. Auch nicht, als ich mit meinem ersten Freund bei 35 Grad im Schatten spazieren ging. Ich schwitzte mich halbtot. War aber unfassbar begeistert von dieser Kunstfaser: Ein Pullover – so dünn, wie ein Paar Strümpfe! Mit Rollkragen. Herrlich! Das war Westen! – Irgendwann machten die Exquisit-Läden auf, in denen alles fünfmal teurer war. Ein Kleid für ein mittleres Monatsgehalt. Und ein Paar Stiefel für 365.- Ost-Mark. Soviel verdiente eine Buchhändlerin im Monat. Ich weiß das, weil ich später als Buchhändlerin gearbeitet habe. Als ich diese Stiefel sah, ich war 16, hab ich drei Wochen in den Ferien dafür geschuftet, um sie mir kaufen zu können.
Dazu ein karminroter Mantel, den eine Schneiderin nach meinen Wünschen genäht hatte. Tailliert und mit Pelerine. Ich kam mir vor, als sei ich der Modezeitschrift „Sibylle“ entstiegen, die in der DDR die Nummer Eins neben der „Pramo“ (Pra-ktische Mo-de und langweilig) war. Sechsmal im Jahr erschien sie und ihre wunderschönen Models, die noch Mannequins hießen, erweckten unseren Neid. Sie trugen Klamotten, die es nirgendwo zu kaufen gab. Ich erinnere mich an meinen ersten Hosenanzug, auch von einer Schneiderin genäht, aus Pepitastoff. Das Foto dazu hatte ich aus der „Sibylle“ ausgeschnitten und in die Schneiderei getragen. So einen will ich! Meine entnervte Mutter bezahlte das. Weil sie mich wenigstens in dieser Beziehung verstehen konnte.
Stundenlang phantasierte ich gemeinsam mit meiner besten Freundin Christina auf einer Parkbank, was wir zur bevorstehenden Jugendweihe anziehen würden. Wir waren vierzehn und gertenschlank. Wir hätten alles tragen können. Am Ende trugen wir, was da war. Ich ein rosa Kostüm mit dunkelblauer Bluse. Aus dem „Exquisit“. Sah fast aus wie von Jacky Kennedy. Immerhin.
Die erste Jeans borgte ich mir von meinem Freund, sie war hellblau und ich fühlte mich, als sei ich von der anderen Seite der Grenze mal kurz rüber gehüpft. Jeans überhaupt. Die waren keine Hosen. Die waren eine Lebenseinstellung. Die mit einer Hose demonstrierte Vorstellung eines Traums. Und sind es bis zum Ende der DDR geblieben. Heute sehe ich mir meine Enkelin Anna an. Sie ist genauso verrückt nach Klamotten, wie ich es damals war. Mit großen Glubschaugen überredet sie mich zu stetem Kauf – genauso, wie ich damals meine Mutter überredete. Natürlich ist die Auswahl heute unendlich groß. Ich beneide Anna und bin ein wenig wehmütig. Wäre ich noch einmal so jung und so schön… Und doch – seltsamerweise denke ich gern an diese, unsere Zeit, damals in der DDR. Es war nicht alles schlecht. Ich war jung. Ich war verliebt. Alles andere war dann doch nur Nebensache.
Übrigens: Das Café „Sibylle“ – benannt nach der Modezeitschrift „Sibylle“ – gibt’s seit 1962 und auch heute noch in Berlin, in der Karl-Marx-Allee.
Foto: Ich mit Zöpfen.